Hören, was der Sterbende nicht sagt

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THEMENBILD: KRANKENPFLEGEAPA/BARBARA GINDL
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Im Umgang mit sterbenden Menschen hat ein neues Schlagwort Einzug gehalten: Spiritual Care soll helfen, auf spiritueller Ebene mit dem eigenen Tod umzugehen. Doch persönliche Begleitung braucht Zeit .

Man redet wieder darüber. Schon allein aus demografischen Gründen – es gibt immer mehr ältere Menschen –, spielt die Beschäftigung mit Krankheit, Sterben und Tod heute eine zunehmend wichtigere Rolle. Und Sterben wird auch wieder öffentlicher, als es in den vergangenen Jahrzehnten war. Gerade die Hospizbewegung und die Palliative Care haben hier einen maßgeblichen Anteil daran, den Tod wieder als integralen Bestandteil des Lebens zu begreifen. Und das Sterben als Ereignis zu betrachten, das man bewusst und vielleicht sogar in Gemeinschaft erlebt. Es ist ein kleiner gegenläufiger Trend zum anonymen Sterben, zum Abschieben in eine Blackbox – das Sterbezimmer im Krankenhaus zum Beispiel –, in der der Tod eintritt.


Körperliche Ebene.
Auf der anderen Seite bleibt die Beschäftigung mit dem eigenen Tod dabei oft eine sehr körperliche. Wie viele Gedanken werden vor allem der Frage gewidmet, was nach dem Eintritt des Todes mit dem Körper passiert? Die Sichtbarkeit des Todes manifestiert sich besonders in den unterschiedlichsten Formen von Bestattungen, von Urnenhainen unter Bäumen, Wasserbestattungen, dem Konservieren in Form von Diamanten oder – wenn auch derzeit nur im Ausland möglich – dem Verstreuen der Asche in den Wind. Und auch die Thanatopraxie, die Einbalsamierung des Leichnams, ist vor allem darauf ausgerichtet, den Körper noch ein letztes Mal ästhetisch in den Mittelpunkt zu rücken. Was bei all diesen oberflächlichen Gedanken der Körperlichkeit oft auf der Strecke bleibt, ist die Dimension des Beschäftigens mit dem eigenen Tod aus geistiger Perspektive.

Ausgehend von der Hospizbewegung in den 1960-er Jahren, die tiefe religiös-christliche Wurzeln hat, hat sich im Lauf der Jahrzehnte eine Änderung in der Begleitung von Sterbenden eingestellt. Mit der zunehmenden Säkularisierung traten Begriffe wie Glaube und Heiligkeit des Lebens zugunsten von Würde und Lebensqualität in den Hintergrund. Dort setzt auch das immer stärker gefragte Konzept der Palliative Care an. Abseits aller konfessionellen Gedanken geht es hier darum, den Menschen in ihren letzten Tagen, Wochen und Monaten ein angenehmes Umfeld zu bereiten, ihnen ein weitgehend schmerz- und auch angstfreies Sterben zu ermöglichen. Das ist letztlich ein Wunsch, den viele Menschen schon lang vorher äußern.

Doch keine Bewegung ohne Gegenbewegung – zuletzt bekam die Palliative Care einen neuen Schub, der besonders in Richtung Spiritualität geht. Was unter anderem damit zu tun hat, dass das Streben nach Individualität konfessionelle und institutionalisierte Formen der Religiösität immer stärker in den Hintergrund gedrängt hat. Und damit eine persönliche Form von Spiritualität bei vielen Menschen eine größere Bedeutung bekommen hat. So taucht seit einigen Jahren in Zusammenhang mit der Pflege Sterbender immer wieder die Bezeichnung Spiritual Care auf.


Fokus auf das Wesentliche. Was sich dahinter verbirgt, lässt allerdings noch einigen Interpretationsspielraum offen. „Spiritual Care ist ein neues Wort – dadurch bekommt es auch mehr Aufmerksamkeit“, sagt Religionswissenschaftlerin Birgit Heller. „Jeder redet davon, aber niemand weiß, was es überhaupt sein soll.“ Vereinfacht gesagt geht es um ein Phänomen, das darauf hinausläuft, Abschied zu nehmen, mit sich selbst ins Reine zu kommen, den Fokus auf das Wesentliche zu richten. Was im Grunde etwas ist, das es in den meisten Religionen ohnehin gibt. Der Unterschied liege, so Heller, oft nur in den konkreten Hilfsmitteln – etwa unterschiedlichen Riten, Gebeten oder heiligen Texten.

Ein gemeinsames Element sei vor allem, dass gutes Sterben als bewusstes Sterben vorgestellt wird. Was einen deutlichen Unterschied darstelle zum Sterbeprozess, wie er heute immer wieder praktiziert wird, etwa in Form der palliativen Sedierung: Auf eigenen Wunsch können sich schwerkranke Patienten in der letzten Phase ihres Lebens in ein künstliches Koma versetzen lassen, um das Leiden und Sterben nicht mehr miterleben zu müssen.

Doch während heute in westlichen industrialisierten Gesellschaften die Sterbebegleitung meist mit dem Tod endet, wird der Tod aus spiritueller Sicht nicht als Punkt gedacht, sondern als Prozess. Und dieser endet nicht mit dem Sterben – dementsprechend geht die Begleitung unmittelbar danach in die Totenpflege über. Schon in der Antike, im alten Ägypten und auch in christlicher Zeit war das Phänomen bekannt, dass das Erleben des Todes mit Hindernissen verbunden ist. Und man den Sterbenden auf diesem Weg begleitet. „Das steht diametral zur Entsorgungsmentalität unserer Gesellschaft, durch die man sich mit einer Sparbestattung zufrieden gibt.“

Die fundamentale Bruchlinie verlaufe dabei nicht zwischen einzelnen Religionen, sondern zwischen Religion und dem säkularen Verständnis, glaubt Heller. „Denn dort ist es wenig bedeutsam, ob am Ende das Paradies wartet, eine günstigere Wiedergeburt oder die Befreiung aus dem Geburtenkreislauf.“ Genau hier hakt auch Spiritual Care ein. Wobei gar nichts wahnsinnig Neues propagiert wird, denn die Auseinandersetzung mit dem Sterben – Stichwort Memento Mori – hat etwa in der christlichen Welt eine lange Tradition. Vor allem im Zusammenhang mit Epidemien wie der Pest lag es nahe, auch über den eigenen Tod nachzudenken. Nur geriet diese Tradition durch die Säkularisierung in Vergessenheit. Auch die Begleitung kranker und sterbender Menschen ist aus religiöser Sicht nicht neu. Nicht nur im Christentum, auch im Judentum oder im Islam ist es quasi eine Pflicht, diese Menschen zu besuchen. Und ihnen möglichst lange Mut zuzusprechen und die Hoffnung aufrechtzuerhalten, dass es eine Genesung gibt.

Tritt der Tod aber ein, gibt es die unterschiedlichsten Riten – sei das die Totenglocke in der christlichen Tradition. Oder die Praxis im Islam, dem soeben Verstorbenen noch das Glaubensbekenntnis in das Ohr zu sprechen – so wie dies auch das erste ist, das ein Mensch bei der Geburt zu hören bekommt. Besonders detailliert sind die Riten im Buddhismus ausgeprägt – jener Religion, die sich am stärksten mit dem Tod auseinandergesetzt hat. Und die die Beschäftigung mit dem Sterben auf spiritueller Ebene auch in die westliche Welt exportiert hat, etwa mit dem Tibetischen Totenbuch, das auch als Anleitung für Nichtbuddhisten große Verbreitung findet.

Die moderne Spiritual Care ist an keine derartigen Traditionen und Riten gebunden. Gerade weil Religion oft mit Kirche assoziiert wird, wollen sich viele Menschen davon abgrenzen. Und leben ihre Spiritualität in anderen, individueller geprägten Formen aus. Wobei das oft gar nicht so viel mit anderen Inhalten zu tun hat – schließlich haben viele Religionen Spiritualität in sich ausgeprägt, etwa in Form der Mystik. Es ist eher der Organisationsgrad – man grenzt sich nur von der institutionalisierten Dogmatik ab.

Genau hier sei allerdings auch ein Knackpunkt, an dem persönliche Spiritualität und Organisation aufeinanderprallen würden, meint Heller. Denn auf Seiten der Institutionen, etwa Krankenhäuser oder Palliativeinrichtungen, beginne man nun, diese vermehrte Hinwendung zum Spirituellen zu dokumentieren, evaluieren und kontrollieren. „Es gibt Anamnesebögen, die die Spiritualität von Menschen feststellen sollen – ein Versuch, das Ganze in eine planbare Technik zu überführen.“ Das sei für den kompletten Bereich jedoch unmöglich – „weil Spiritual Care etwas ist, das aus Beziehungen erwächst. Und das man nicht einfach verordnen kann wie ein Medikament.“

Vorsichtig müsse man auch deswegen sein, weil spirituelle Menschen laut Studien mit Krankheit und Sterben besser zurechtkommen. Und geduldige und angepasste Patienten im Interesse der Einrichtungen seien. Und schließlich, so Heller, dürfe man auch nicht vergessen, dass sich nicht alle Menschen spirituell definieren: „Es darf nicht zu einer neuen Mission am Sterbebett entarten.“

Auch ist es ein Trugschluss, dass man Spiritual Care in einer paternalistischen Weise praktizieren kann, also Experten Sinn und Hoffnung verabreichen. Denn auf der anderen Seite sind es ja die Sterbenden, die Verantwortung für sich selbst übernehmen – und die anderen können davon lernen. „Es geht darum, auf derselben Augenhöhe zu sein“, sagt Heller. Nicht um Anleitungen, sondern zunächst um Selbstsorge. Und in einem zweiten Schritt um die Sorge füreinander. Das funktioniere nur in einer gelungenen Beziehung von Menschen, und diese könne man nicht einfach aus einer Schublade ziehen.


Zeit für den Patienten nehmen. Von „Spiritualität als Grundnahrungsmittel“ spricht dann auch Theologe und Psychotherapeut Arnold Mettnitzer. Oft gehe es einfach nur darum, da zu sein, ein Gefühl für den Menschen gegenüber zu bekommen, sich Zeit zu nehmen. „Eine nutzlose, zwecklose, aber sinnvolle geschenkte Zeit.“ Und in der Stille zu spüren, was er sagen will. Denn oft würden Patienten schweigen oder sogar das Gegenteil von dem sagen, was sie eigentlich meinen – aus Angst, oder weil sie zum Gegenüber noch kein Vertrauen aufgebaut haben. „Das Leitmotiv muss sein: ,Bitte höre, was ich nicht sage.‘“

Dass sich das in der Logik einer Institution, die auch auf Finanzierbarkeit und Effizienz achten muss, nicht ausgehen kann, ist klar. Daher ist der Ansatz, mit Spiritual Care erst dann zu beginnen, wenn ein Mensch im Sterben liegt, auch zu kurz gegriffen. Schließlich, so Heller, stoße man oft an die Grenzen der Institutionenlogik – denn spirituelle Begleitung kann man nicht einfach in Zeiteinheiten abrechnen. „Institution und Spiritualität vertragen sich nicht.“ Und ohnehin sei es der Wunsch der meisten Menschen, zu Hause und umgeben von der Familie zu sterben. Doch damit dieser Wunsch erfüllt werden kann, müsste man schon viel früher ansetzen, etwa indem man mit Kindern und Jugendlichen anders über den Tod kommuniziert. Und sich auch mit seiner eigenen Spiritualität auseinandersetzt, „In Wirklichkeit“, sagt Heller, „ist Spiritual Care Beziehungsarbeit, die lang vor dem Tod beginnt.“

Begriffe und Definitionen

Palliative Care
Oberbegriff für die medizinische, pflegerische, psychosoziale und auch spirituelle Versorgung unheilbar Kranker und Sterbender. Der Begriff „palliativ“ (lat. „palliare“: mit einem Mantel bedecken) wurde geprägt durch den kanadischen Arzt Balfour Mount.

Palliativmedizin
Die Weltgesundheitsorganisation versteht darunter die Behandlung von Menschen mit einer begrenzten Lebenserwartung, die nicht mehr auf Heilung abzielt, sondern auf die Beherrschung von Schmerzen und Beschwerden.
Im Vordergrund steht nicht die Verlängerung des Lebens, sondern die Lebensqualität.

Spiritual Care
Seit einigen Jahren wird die spirituelle Dimension in Palliativbetreuung zunehmend zu einer eigenen Forschungsdisziplin. Im Mittelpunkt steht die psychosoziale und spirituelle Dimension der Behandlung schwer kranker und sterbender Menschen. Vor allem im jüdischen Kontext ist die Forschung und Ausbildung weit fortgeschritten. Es geht bei Spiritual Care allerdings nicht nur um institutionalisierte Religionen, sondern auch um persönliche Spiritualität.

Hospizbewegung
Ende der 1960er-Jahre entstand die moderne Hospizbewegung in England. Die Britin Cicely Saunders gilt als Gründerin, auch die Arbeit der schweizerisch-amerikanischen Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross hatte großen Einfluss. In Hospizen, ob stationär oder ambulant, sollen Kranke und Angehörige im Prozess des Sterbens und der Trauerbegleitung unterstützt werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.06.2014)

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