Kaum im Urlaub und schon wieder krank

Niesende Frau
Niesende Frau(c) Erwin Wodicka
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Halsweh im Flugzeug, Fieber am Strand. Wer sich im Urlaub regelmäßig unwohl fühlt, könnte am Leisure-Sickness-Syndrom leiden.

Der Wiener Theodor R., Inhaber einer großen PR-Agentur und die Klagenfurterin Eva B., eine der fleißigsten und loyalsten Angestellten in einem Produktionsbetrieb, haben eines gemeinsam: Sie leiden unter dem sogenannten Leisure-Sickness-Syndrom. Ihn quälen an vielen Wochenenden starke Kopfschmerzen, sie ist die ersten paar Tage in fast jedem Urlaub ziemlich angeschlagen, manchmal auch richtig krank.

Eva B. und Theodor R. verkörpern zwei von mehreren Prototypen, die dieses noch nicht restlos erforschte Phänomen vorwiegend betrifft: Menschen, die ständig unter Strom und Dauerstress stehen, die nicht Nein sagen können, Workaholics und Perfektionisten. „In die Risikogruppe gehören auch Menschen mit hohem Verantwortungsbewusstsein und mitunter extremer Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber. Sie können kaum abschalten und nehmen die Arbeit im Kopf in den Urlaub mit“, erklärt Wolfgang Schobersberger, Sportmediziner und Urlaubsforscher sowie Direktor des Instituts für Sport-, Alpin- und Gesundheitstourismus in Innsbruck. „Ja, es ist wirklich oft so, dass ich gar nicht richtig auf Urlaub fahren will, weil mich ja eigentlich die Firma bräuchte“, bestätigt die 40-jährige Kärntnerin. „Das war auch letzten Sommer so. Ich habe bis zur allerletzten Minute unter Hochdruck gearbeitet, damit alles geordnet hinterlassen ist und ja nichts liegen bleibt. Und schon im Flugzeug nach Griechenland hatte ich Halsweh, im Hotel dann bereits leichtes Fieber.“


An den Dauerstress gewöhnt. Grippesymptome gehören laut einer Studie der niederländischen Universität Tilburg mit 48,9 Prozent zu den häufigsten Erscheinungsbildern dieser „Freizeitkrankheit“. Noch häufiger treten nur Kopfschmerzen/Migräne mit 54,4Prozent auf, unter Müdigkeit leiden 27,8 und unter Muskelschmerzen 26,9 Prozent. Insgesamt träfen das Unwohlsein am Urlaubsbeginn oder der Wochenendblues rund drei Prozent der erwachsenen Bevölkerung. „Unserer Meinung nach sind es aber mindestens 15 Prozent“, sagt Schobersberger, der mit Kollegen derzeit eine entsprechende Untersuchung gestartet hat – ein Ergebnis wird nächstes Jahr erwartet.

Schon heute ist bekannt, dass Leisure Sickness auch mit Stressverarbeitung und Stresshormonen zu tun hat. Wer das ganze Jahr auf Tausend fährt, gewöhnt sich an den Dauerstress, der Körper passt sich an die ungesunde Dauerüberforderung an. Ruhepausen werden nun als Stress empfunden und machen erst ruhelos und grantig, dann krank. Eine andere These hat der St.Pöltner Psychologe Norman Schmid: „Solange die Risikopersonen, also sehr engagierte Angestellte, Menschen in Führungsposition oder Selbstständige unter Stress stehen, stellt der Körper genügend Energie zur Verfügung. Aber wenn diese Personen loslassen, werden sie krank. Ist die Dauerbefeuerung weg, kann der Körper nicht mehr so mobilisieren, und der ohnehin ausgepowerte Organismus reagiert mit Infekten, Erschöpfung oder Migräne.“

Von der Wochenendmigräne oder dem Weekend Blues kann PR-Chef Theodor R. ein (Schmerz-)Lied singen. „Es ist immer wieder dasselbe, oft wache ich sonntags mit Kopfweh und bleierner Müdigkeit auf, und der Gedanke an das Arbeitspensum für die nächste Woche vergällt mir die Freizeit.“ Je gebildeter die Menschen sind, desto eher packt sie der Sonntagsblues, haben Wissenschaftler der Universität Hamburg herausgefunden. Studienleiter Wolfgang Maenning weist zudem auf einen genderspezifischen Unterschied hin: Das Unwohlsein am Wochenende tritt im mittleren Bildungsniveau eher nur bei Männern auf, bei hochgebildeten Menschen trifft es beide Geschlechter gleich. Maenning geht davon aus, dass sich vor allem Höhergebildete am Wochenende schon vor dem Stress und den unvorhersehbaren Anforderungen der kommenden Woche fürchten. PR-Boss Theodor R. kann das bestätigen: „Gern gebe ich es nicht zu, aber es entspricht den Tatsachen.“

Tatsache ist ferner: Bei Dauergestressten und Menschen mit Risiko für eine Herzerkrankung steigt die Infarktgefahr in den ersten beiden Urlaubstagen an. „Der an und für sich gesunde Tapetenwechsel kann also auch nachteilig sein“, warnt Schobersberger und rät: „Gerade Risikopersonen sollten es vor allem in den ersten beiden Urlaubstagen wirklich langsam angehen.“ Sein Tipp für an und für sich Gesunde, die vor allem das Freizeitleiden plagt: „Langsam entschleunigen, nicht gleich von hundert auf null herunterkommen wollen.“ Jene Hoteliers, so Schobersberger, die den Radikalansatz verfolgten und ihren Gästen ein totales Handyverbot auferlegten, würden vielen damit eher schaden als nützen: „Ein gestresster Manager kann nicht von einer auf die nächste Sekunde abschalten, er fühlt sich, vor allem in den ersten Tagen, abgenabelt und extrem gestresst, wenn er nicht telefonieren darf.“

Der Leisure Sickness vorbeugen. Beim langsamen Abschalten, so Psychologe Norman Schmid, helfen Entspannungsübungen, „dabei soll jeder seinen eigenen Rhythmus berücksichtigen.“ Wie das geht, und mit welchen mentalen Strategien Abschalten gelingt, verrät er in seinen Büchern „Mein Weg in die Entspannung“ und „Nicht immer denken“. Und wenn einen wirklich die Freizeitkrankheit vom Ausflug oder der Raftingtour abhält, „nicht ärgern, sondern das Beste daraus machen, ein gutes Buch lesen, einen schönen Film anschauen und sich vielleicht ernsthaft überlegen, ob man es nach dem Urlaub nicht ruhiger im Job angehen, seine Work-Life-Balance wirklich ins Gleichgewicht bringen kann.“ Das wäre die beste Prävention gegen Leisure Sickness und eine Möglichkeit, den nächsten Urlaub wirklich genießen zu können. Denn Prävention beginnt im Arbeitsalltag, und vielleicht ist es für den heurigen Urlaub noch nicht zu spät.

LESEND DEN STRESS Bekämpfen

Entspannung ist individuell, nicht jede Technik hilft jedem. Das Buch „Mein Weg in die Entspannung“ hilft dabei herauszufinden, welche Entspannungstechnik die individuellen Stresssymptome am besten bekämpft. Autor ist der Psychologe Norman Schmid (Verlag Maudrich, 192 Seiten, 22 €).
Nicht immer denken. „Viele Menschen können kaum mehr abschalten, und das macht auf Dauer krankt“, warnt der Psychologe Norman Schmid in seinem Buch „Nicht immer denken. Die Kraft von Achtsamkeit, Stille und Konzentration“. Darin zeigt er auf, mit welchen mentalen Strategien das Abschalten auch dem Gestresstesten wieder gelingt und wie man seine Gedanken in eine andere Richtung lenken kann (Verlag Maudrich, 216 Seiten, 19,90 €).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.06.2014)

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