Wenn die Nerven den Appetit zügeln

Eines der klassischen Symptome von Bulimie- und Magersuchtpatienten ist die gestörte Selbstwahrnehmung. Sogar Spindeldürre fühlen sich oft furchtbar dick.
Eines der klassischen Symptome von Bulimie- und Magersuchtpatienten ist die gestörte Selbstwahrnehmung. Sogar Spindeldürre fühlen sich oft furchtbar dick.www.bilderbox.com
  • Drucken

Magersucht, Bulimie oder Binge Eating – bis zu 15 Prozent der Bevölkerung leiden unter Essstörungen. Häufig geht das Hungern oder Schlingen mit einer Depression einher.

Natalie S.* war mit ihren 64 Kilo bei 1,53 Meter Körpergröße deutlich übergewichtig. Doch damit hatte die 16-jährige Schülerin nie wirklich Probleme. Nach einem Auslandsaufenthalt allerdings begann sie, Essen zu verweigern, verlor in wenigen Monaten nahezu die Hälfte ihres Gewichts, magerte auf 38 Kilo ab. „Als sie dann endlich zu mir kam, war sie richtig dürr, blass und am Rande des Zusammenbruchs“, schildert der Jugendpsychiater Andreas Karwautz, Leiter der Essstörungsambulanz an der Wiener Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Essstörungen, so der Fachmann, seien in erster Linie nicht Ernährungsprobleme, sondern seelische Erkrankungen.

Magersucht, im Fachjargon Anorexia nervosa (etwa „nervlich bedingte Appetitlosgikeit), beginnt meist im Alter zwischen 14 und 16 Jahren, 90 Prozent sind Mädchen. 60-jährige Magersüchtige sind die Ausnahme, aber es gibt sie. Oft sind Joghurt und Äpfel das Einzige, das gegessen wird, manche bearbeiten sogar jede einzelne Erbse mit Messer und Gabel. Magersucht ist die schwerste psychische Störung im Jugendalter und auch die häufigste tödliche: Laut einer langfristigen Untersuchung in Deutschland sterben 14,3 Prozent aller Betroffenen. Todesursachen sind Verhungern sowie andere Folgen des Magerwahns (von Herzrhythmusstörungen bis Nierenschäden) und Suizid. Die Gefahr ist bei Magersüchtigen um das 200-Fache höher als in der Normalbevölkerung und doppelt so hoch wie bei schwer Depressiven.

Natalie S. hatte keine Depressionen. Allerdings hatte besagter Auslandsaufenthalt ihr Wesen verändert. Die beiden Schulkolleginnen, mit denen sie unterwegs war und von denen sie glaubte, es seien Freundinnen, unterhielten sich nur miteinander, ließen Natalie die ganze Zeit links liegen. Das und die Tatsache, dass Natalie ihre Mutter vermisste und merkte, dass sie beileibe nicht so erwachsen war, wie sie gedacht hatte, und völlig überfordert war, ließen für das Mädchen eine Welt zusammenbrechen. Die verwundete, irritierte Seele ließ sie in die Magersucht fallen.


Selbstwert gestört.
„Bei jeder Essstörung ist der Selbstwert gestört“, betonte Karwautz in seinem Referat auf der letzten Sommerakademie der österreichischen Apothekerkammer. Gerade bei Magersüchtigen kommt es häufig vor, dass sie glauben, mit jedem verlorenen Kilo mehr geliebt zu werden, mehr wert zu sein – Nichtessen aus Hunger nach Anerkennung. Erstes Anzeichen einer Magersucht kann neben Gewichtsverlust auch exzessives Sporttreiben sein.

Neben dem angeknacksten Selbstwert liegt jeder Essstörung auch eine Körperschema-Störung zugrunde, spindeldürre Magersüchtige fühlen sich oft dick wie eine Tonne. Daneben gibt es freilich noch eine Reihe von verschiedenen Auslösern und Umständen – von der Diät als Einstiegsdroge über Sozialphobie, Depression, Stress, Mobbing, Schlankheitswahn bis zu mangelnder emotionaler Zuwendung in der Kindheit. „Auch soziale Medien spielen eine Rolle“, erwähnt Karwautz. Laut einer australischen Studie gibt es einen höchst signifikanten Zusammenhang zwischen der Zeit, die in sozialen Medien verbracht wird, und der Sorge um das eigene Körperbild.


Der Arzt als Gegner.
„In diesen Medien werden unter anderem auch Tipps gegeben, wie man als Magersüchtige Ärzte austricksen kann. „Eine Patientin füllte beispielsweise Bleikugeln in ein Präservativ und steckte dieses in die Scheide, bevor sie gewogen wurde“, berichtet Karwautz. Der Arzt, dem es wichtig ist, dass die Patientin an Körpergewicht zunimmt, wird immer wieder zum Gegner.

Die Therapie der Magersucht dauert meist Jahre, ein – wenn nötig – stationärer Aufenthalt mindestens sechs Wochen, aber es können auch Monate sein. „Psychotherapie ist bei jeder Form von Essstörung ein unbedingt notwendiger Pfeiler der Behandlung“, betont Karwautz. Als begleitende Maßnahme könnten eventuell Psychopharmaka (niedrig dosierte Antidepressiva und Neuroleptika) sinnvoll sein. Natalie S. haben sie geholfen, ebenso Sonja R.* Die 17-jährige Tochter eines Gastwirtehepaares aus Niederösterreich hatte mit Bulimie, also der Ess-Brech-Sucht, zu kämpfen. Das ging so weit, dass sie eines Nachts sämtliche Würste aus der Kühlkammer des Wirtshauses in sich hineinstopfte und dann – wie immer nach so einer Fressorgie – erbrach. Als der Vater anderntags seine Gäste bewirten wollte und kein einziges Paar Würste mehr vorfand, „flog“ Sonjas Bulimie, die sie typischerweise tunlichst verheimlichte, endlich auf.


Kontrollverlust.
Patienten mit Bulimie haben einfach keine Chance, ihren enormen Esszwang zu kontrollieren. Auch, wenn sie sich noch so bemühen. Eine Regulationsstörung löst immer wieder unstillbaren Mega-Appetit aus, dem auch mit eisernem Willen nicht beizukommen ist. Bei einer Heißhungerattacke wird alles Genießbare in sich hineingestopft, das ist oft der ganze Inhalt eines Kühlschranks – das können mitunter bis zu 10.000 Kalorien auf einmal sein, umgerechnet etwa 13 bis 15 Portionen Wiener Schnitzel mit Pommes frites. Der seelische Kater nach derlei Orgien ist gewaltig, Betroffene fühlen sich schuldig und schämen sich, weil sie sich nicht unter Kontrolle hatten. Und um nicht zuzunehmen, zwingen sich Patienten, die Nahrungsmittel wieder zu erbrechen, damit das Körpergewicht einigermaßen auf Normalniveau gehalten wird. Menschen mit Bulimie sind häufig normalgewichtig und zu Beginn ihrer Erkrankung meist zwischen 16 und 18 Jahre alt.

Älter, im Schnitt um die 30, sind die „Rausch-Esser“, die unter dem sogenannten Binge-Eating-Syndrom, der am weitesten verbreiteten Essstörung, leiden. Sie werden – gleich wie Bulimie-Kranke – immer wieder von unkontrollierbaren Fressanfällen heimgesucht, kompensieren aber nicht, das heißt erbrechen nicht und sind daher früher oder später meist stark übergewichtig – ein Body-Mass-Index von 40 ist keine Seltenheit (eine 1,60 Meter große Frau mit einem BMI von 40 bringt etwa 103 Kilogramm auf die Waage).

Ob Hungern oder Heißhungerattacken, ob Erbsenzählen oder Schlingen – eine Essstörung ist häufig ein Hilfeschrei, ist häufig Hunger nach Liebe oder der Versuch, durch übermäßiges Essen mit Ängsten und Einsamkeit fertig zu werden.
* Namen von der Redaktion geändert

Adressen

Rat und Hilfe: • Essstörungsambulanz am AKH Wien: +43/(0)1/404 00-30140 für Kinder und Jugendliche, www.ess-stoerung.eu

• Kostenlose Essstörungs-Hotline: 0800/201 120, www.essstoerungshotline.at

• Das österreichische Jugendrotkreuz bietet eine Telefon-Hotline und eine Onlineplattform für Jugendliche: Time4Friends-Hotline 0800/ 700 144, www.helpstars.at

• Zentrum für Essstörungen: +43/(0)1/710 34 70, www.essstoerungen.ccwww.s-o-ess.at
www.oeges.or.at
www.sowhat.at
www.intakt.at

Fakten

Bis zu 15 Prozent der Bevölkerung in Österreich dürften von Essstörungen betroffen sein, konkrete Zahlen gibt es aber nicht.

US-Studien zufolge hat bereits jedes dritte Kind im Grundschulalter eine Diät hinter sich, jedes zweite Mädchen in der Pubertät ist mit seiner Figur unzufrieden.

Traum & Realität: In Deutschland ging man der Frage nach, wie viele Frauen tatsächlich die Traummaße von 90-60-90 erreichen: Von 10.000 waren es gerade einmal sechs.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.08.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Essstörung
Gesundheit

Essstörung: "Männer genieren sich mehr"

Bernhard Wappis überwand die Magersucht erst durch eine Psychotherapie.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.