Trost im Netz: Die Facebook-Therapie

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Depression, Krebserkrankung, Tod naher Angehöriger: Manche Menschen nutzen soziale Netzwerke wie Facebook, um ihre existenziellen Probleme mit virtuellen Freunden zu teilen.

Es gibt auch gute Tage. Vergangenen Montag etwa wusste Bernhard Torsch von einem unerwarteten Sieg über sich selbst zu berichten. Er sei, erzählt der Klagenfurter, an einer Kreuzung gestanden, als eine Panikattacke anrollte. Beklemmung, Herzrasen – Vorzeichen jener schweren Angststörung, die ihn seit 13 Jahren regelmäßig zu Boden ringt. Doch dann geschah etwas Überraschendes. „Es ist mir zum ersten Mal gelungen, die Panikattacke niederzubrüllen“, schreibt er auf Facebook. Ein kleiner, aber wichtiger Sieg im Kampf mit den Dämonen im Kopf, für den es umgehend Applaus aus dem entfernten Berlin gab. „Wie schön, wenn du lernst, den inneren Schweinehund niederzubrüllen“, schrieb eine deutsche Facebook-Freundin.

Für viele Menschen sind soziale Netzwerke ein lockerer Kontaktbasar, auf dem sie sich aufgeräumt präsentieren möchten: vorteilhaftes Profilfoto, Bilder vom Urlaub, flockige Alltagsweisheiten. Der Blick hinter die Fassaden ist gefiltert: Was ihnen wehtut, wovor sie Angst haben, was sie angreifbar macht, bleibt der Onlinegemeinde weitgehend verborgen. Was aber, wenn die Kulisse nicht mehr zu schönen ist? Manche, wie Torsch, wagen den Schritt nach vorn: Sie schreiben in ungeschminkter Offenheit auf Facebook über existenzielle Probleme, die andere nicht einmal engsten Freunden erzählen würden – im Vertrauen darauf, dass virtuelle Bekannte, denen sie noch nie im Leben begegnet sind, damit sorgsam umgehen können.

Die Journalisten Kurt Kuch und Alfred Strauch erzählen via Facebook-Öffentlichkeit von ihrem Kampf gegen den Krebs (siehe Artikel rechts). Auch Gerhard Loub, Online-Kommunikationschef der Volkspartei, hat unlängst sehr persönliche Gedanken öffentlich gemacht. Im politischen Alltagsgeschäft lästert er via Facebook und Twitter über die Aktivitäten der politischen Mitbewerber, öffentlich ausgetragene Scharmützel gehören zu seinem Job. Doch vor einigen Monaten zog er kurzfristig die Notbremse: Seine Mutter lag im Sterben. „Ich wollte das loswerden, konnte aber nicht recht darüber reden“, sagt er heute. Also postete er sich den Kummer von der Seele. Die Reaktionen seien überwältigend gewesen: Politische Gegner zollten Respekt für seinen Mut zur Verletzlichkeit und munterten ihn auf. „Die parteiübergreifende Menschlichkeit war umwerfend“, sagt Loub. „Das ist etwas, was man nie zurückzahlen kann.“ Inzwischen ist er wieder im Alltag angekommen, er rangelt sich wieder mit den anderen Politsprechern. „Aber ich habe jetzt öfter ein schlechtes Gewissen, wenn ich scharf reagiere“, sagt er. Und immer wieder verkneife er sich eine bissige Bemerkung über Kontrahenten, die ihm auf einer menschlichen Ebene begegnet sind.


Nervenzusammenbruch. Was für Loub eine Ausnahmesituation war, gehört für Torsch zum Alltag. Auch er war zwischen 2000 und 2002 Pressesprecher, für die SPÖ in Kärnten, die sich damals im Kampf gegen Jörg Haider zerfleischte. Der sensible Öffentlichkeitsarbeiter geriet zwischen die Mühlsteine, er hielt dem Druck nicht stand. Eines Tages erlitt er in der Mittagspause einen Nervenzusammenbruch. Der Stress war Auslöser einer schlummernden psychischen Krankheit, die sich in den folgenden Jahren dramatisch verschärfte. Inzwischen ist der einstige Politprofi auf dem Arbeitsmarkt unvermittelbar. Torsch verlässt seine Wohnung nur selten, er meidet nach Möglichkeit Menschenansammlungen. „Facebook“, sagt er, „vermittelt mir das Gefühl, ein Sozialleben zu haben. Es ist eine Maßnahme, der Außenwelt mitzuteilen: Ich bin noch hier, ich existiere.“

Der 43-Jährige sitzt in seiner Wohnung im Westen von Klagenfurt, die Sonne scheint, der Wörthersee ist nur einen Katzensprung entfernt. Andere können das Sommerwetter für einen unbeschwerten Badeausflug nutzen – er nicht. „Ich betrachte mich als Angehöriger einer Minderheit“, sagt Torsch. „Facebook zeigt mir, dass es auf der ganzen Welt Menschen gibt, die mit mir auf einer Wellenlänge sind, die dieselben Probleme haben.“ Durch das soziale Netzwerk kann er sich mit Menschen austauschen, denen es ähnlich schlecht geht. Andere würden ihn zumindest durch fröhliche Kommentare kurzfristig aufheitern: „Vor allem, wenn jemand etwas Witziges zum Thema Depression schreibt, reißt mich das kurzfristig heraus.“ Immer wieder kämen wertvolle Denkanstöße, Dinge weniger pessimistisch zu betrachten: „Das ist wie ein Gespräch mit einem guten Psychologen.“ Negative Erfahrungen habe er durch seine Offenheit bisher noch nie gemacht – obwohl auch er Facebook als Medium für pointierte politische Statements nutzt. Unter den Pseudonym „Lindwurm“ betreibt Torsch einen Weblog. Dort sind seine psychischen Probleme kein Thema. Torsch will von seinen Ängsten erzählen – aber nicht nur. Er legt Wert darauf, nicht nur als jemand abgestempelt zu werden, der psychische Probleme hat. Daher sind auch seine 640 Facebook-Freunde selektiert. „Das gibt mir die Illusion von Kontrolle“, sagt er.


Anonymes Tagebuch.
Walter Nowak hat da weniger Bedenken. Das Facebook-Profil des 58-jährigen Vorarlbergers ist offen, jeder kann lesen, was ihn quält. „Jede Nacht weckt mich ein Traum, es steht ein fremder Mann im Raum. Er stöhnt und schaut mich gierig an, sodass ich nicht mehr schlafen kann“, heißt es in einem Gedicht auf seinem Profil. Nowak wuchs in einem katholischen Kinderheim auf. Dort vergingen sich Aufseher an ihm, in einer geheimen Kammer testeten Pharmavertreter neue Medikamente an ihm. Lange hat er diese Erfahrungen verdrängt, dann ließen ihn regelmäßig Albträume in der Nacht hochschrecken. Inzwischen hat er Gewissheit, die Vorfälle sind nachgewiesen.

„Facebook ist für mich eine Art anonymes Tagebuch“, sagt er. Am Anfang seien es „Hilfeschreie“ gewesen. „Es ist am Anfang nicht einfach zu sagen, dass man missbraucht wurde“, erzählt er. Inzwischen gehe ihm das Öffentlichmachen seiner traumatischen Erlebnisse leichter von der Hand. „Es ist so, als würde ich sagen, dass ich mir gerade eine Zigarette angezündet habe.“ Nowak hat durch seine Offenheit zu einem besseren Umgang mit seiner Vergangenheit gefunden. Seine Postings erregten auch das Interesse von Journalisten, die seinen Fall thematisierten und Druck auf die Behörden machten, die Ereignisse von früher vollständig aufzudecken. „Ohne Facebook wäre das nicht gegangen.“

Kann die Anteilnahme flüchtiger Internetbekannter also eine therapeutische Wirkung haben? Die auf soziale Medien spezialisierte Psychologin Sandra Gerö warnt vor zu hohen Erwartungen (siehe Interview). Der virtuelle Trost könne manchen zwar helfen, „über den Tag zu kommen“. Zugleich sei die kurzfristige Linderung auf Knopfdruck aber trügerisch, weil Betroffene davon abgelenkt werden könnten, sich ihren Problemen ernsthaft zu stellen.

Vorausgesetzt, sie wollen das überhaupt. Ein „Protokoll der Hilflosigkeit und des Zerfalls“ nennt die Künstlerin Lucille Wittgenstein ihr Facebook-Profil. 3500 Personen können mehrmals täglich ihre Updates lesen, in denen die Malerin über Kokainexzesse, abgebrochenen Entzug oder Selbstmordversuche schreibt. Vor allem aber über ihre Angst. „Ich bin eine bipolare Borderlinerin“, sagt sie. Wittgenstein verlässt das Haus fast nur nach Einbruch der Dämmerung, ihr mit Leinwänden und Büchern vollgestopftes Atelier ist stets abgedunkelt. „Queen of Darkness“, Königin der Dunkelheit, nannte sie unlängst ein Fan aus Japan. „Meine Facebook-Updates sind ein ewiger Roman. Die Leute wollen wissen, wie es weitergeht“, sagt Wittgenstein. Ihr öffentlich zur Schau gestellter Zerfall? Teil der künstlerischen Inszenierung, für Außenstehende „eine köstliche Unterhaltung“, sagt Wittgenstein. Wie sie mit besorgten Kommentaren umgeht? „Die sind mir völlig egal“, sagt Wittgenstein. Nicht nur die Künstlerin ist hilflos. Auch ihre Freunde.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.08.2014)

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