Deutschland legt Zahlen auf den Tisch

Schwangerschaftstest
SchwangerschaftstestTeresa Zötl
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Beim großen Streitthema Fristenlösung ist in Deutschland Ruhe eingekehrt. Die Zahl der Abbrüche sinkt stetig. Mittellosen Frauen zahlt die Krankenkasse den Eingriff.

Den Landkreis Höxter muss man nicht kennen. Dabei ist es schön da oben in Ostwestfalen: schmucke Fachwerkhäuser, sanftes Bergland und mäandernde Flüsse. Wer hier lebt, ist meist katholisch und wählt die CDU. Die Jungen ziehen weg, die Bevölkerung schrumpft. Was sonst? Ach ja: Höxter ist der einzige deutsche Landkreis ohne Abtreibungen. Keine Klinik und kein Arzt nimmt hier Schwangerschaftsabbrüche vor. Wobei zu bedenken ist: Ein Landkreis entspricht dem österreichischen Bezirk. Der weiße Fleck in der Landkarte betrifft kaum 0,2 Prozent der deutschen Frauen. Bis 2008 war auch Paderborn nebenan noch abtreibungsfrei. Bis eine Ärztin im Schatten des Bischofssitzes das Tabu brach. Das galt als mutige Tat, aber eine „Riesenmarktlücke“ füllte sie damit nicht, wie eine Kollegin damals der „TAZ“ erklärte: Bielefeld liegt nur 45 Kilometer entfernt, und dorthin „fahren die Frauen ja auch zu Ikea“.

In Deutschland ist beim einstigen Krawallthema längst die große Ruhe eingekehrt. Der heftige Streit um den Paragrafen 218, „Abtreibung ist Mord“ gegen „Mein Bauch gehört mir“ – all das hallt kaum noch nach. Dabei dauerten Kampf und Krampf um die Fristenlösung weit länger als in Österreich: Annähernd zeitgleich hatte das Parlament sie Mitte der Siebzigerjahre beschlossen, aber Verfassungsrichter kassierten sie rasch. Die Ersatzregelung geriet zum Graubereich: Viele Ärzte ließen als „soziale Indikation“ schon Arbeitslosigkeit oder geringes Einkommen gelten. Erst 1995 wurde die Fristenregelung in feste Form gegossen.

Seitdem aber herrscht Burgfrieden. Mögen auch Kirchentreue sich innerlich nicht damit abfinden, Feministinnen sich an der Beratungspflicht stoßen – alle teilen die Überzeugung, dass an dem Kompromiss nicht zu rütteln ist, schon gar nicht im Strafrecht. Auch militante Abtreibungsgegner sind weniger präsent als anderswo.

Das erleichtert einen transparenten Umgang mit den Daten. Alles liegt offen auf dem Tisch, das Statistische Bundesamt erhebt und veröffentlicht die Zahlen. So weiß man, dass die Zahl der Abtreibungen stetig abnimmt: Waren es 1996 noch über 130.000, dürfte heuer die Hunderttausenderschwelle unterschritten werden. Zum Vergleich: Umgelegt auf die Einwohnerzahl dürfte es in Österreich nur um die 10.000 Abtreibungen pro Jahr geben. Auch wenn Statistiken fehlen, liegt die Zahl wahrscheinlich weit höher.

Skrupel bei Behinderungen. Was die Daten noch verraten: Nur noch zehn Prozent der Frauen, die eine Schwangerschaft abbrechen, sind Teenagerinnen. In dieser Altersgruppe ist die Zahl der Eingriffe seit 2005 um die Hälfte gesunken, wohl wegen besserer Aufklärung und Verhütung. Nur 39 Prozent der abtreibenden Frauen sind kinderlos; der größere Teil hat schon ein oder mehrere Kinder geboren. Vier von fünf lassen den Eingriff in einer gynäkologischen Praxis vornehmen; 1996 fand noch fast die Hälfte der Abbrüche im Krankenhaus statt.

Gesetzlich ausgestaltet ist die Fristenregelung sehr ähnlich wie in Österreich – mit einem wesentlichen Unterschied: Für Schwangere, die sich keine Abtreibung leisten können, übernimmt die Krankenkasse die Kosten. Eine generelle „Abtreibung auf Krankenschein“ wie in manchen westeuropäischen Ländern gibt es aber auch in Deutschland nicht.

Mehr Skrupel als in Österreich gibt es bei der „eugenischen“ Indikation: Stellt ein Arzt bei einer Untersuchung fest, dass dem ungeborenen Kind eine schwere Behinderung droht, ist das per se noch kein Grund für einen straflosen Abbruch der Schwangerschaft nach der 14. Woche. Zu tief sitzt den Deutschen dafür die Erinnerung an „Rassenhygiene“ und Euthanasieverbrechen der Nazis in den Knochen. Allerdings gibt es ein Schlupfloch: Wenn die „seelische Gesundheit“ der Mutter „in unzumutbarer Weise beeinträchtigt“ würde, ist ein Abbruch erlaubt. Das aber liegt im Ermessen des Arztes, der den Eingriff verweigern kann. Den Schwangeren bleibt dann nur der Weg ins Ausland, meist in die Niederlande.

Einzig bei der medizinischen Indikation wurde das Gesetz von 1995 vor vier Jahren noch einmal verschärft: Wenn die Eltern von einer drohenden Missbildung erfahren, müssen sie eine Bedenkfrist von drei Tagen einhalten. Das soll verhindern, dass sie sich im ersten Schock zu einem Abbruch entschließen, den sie später bereuen.

Lexikon

Geschichte. Am 29. November 1973 wurde die Fristenlösung vom Nationalrat mit 93 SPÖ-Stimmen gegen die 88 Neinstimmen von ÖVP und FPÖ verabschiedet. Am 1.1.1975 trat sie in Kraft.

Gesetz. Nach §96 StGB ist der Schwangerschaftsabbruch in Österreich strafbar. §97 regelt jedoch die Ausnahmen, vor allem eben die Fristenlösung. Demnach ist der Abbruch innerhalb der ersten drei Monate nach Beginn der Schwangerschaft straffrei, sofern er durch einen Arzt nach vorhergehender ärztlicher Beratung durchgeführt wird.

Straffrei ist auch der medizinisch indizierte Abbruch, wenn z. B. das Leben oder die Gesundheit der Schwangeren ernsthaft in Gefahr ist oder wenn „eine ernste Gefahr besteht, dass das Kind geistig oder körperlich schwer geschädigt“ sein wird. Außer in medizinischen Notfällen ist allerdings kein Arzt verpflichtet, einen Abbruch durchzuführen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.08.2014)

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