Tränen und Türen knallen statt stille Nacht

Tränen unter dem Weihnachtsbaum
Tränen unter dem WeihnachtsbaumImago
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Es gibt einige Wege, sich die Festtage um den Heiligen Abend zu verderben, es gibt aber auch einige Wege aus dem Weihnachts-Dilemma: Nein sagen, Teenager den Christbaum schmücken lassen und insgesamt locker bleiben.

Die einen vertragen die ungewohnte Nähe nicht, die anderen leiden bitter unter Einsamkeit – Weihnachten fördert alle Jahre wieder Probleme zu Tage, die sich unterm Jahr leichter unter den Teppich kehren lassen. Dann zerstören auch noch die Folgen des Advent-Stresses und der Hang zum Perfektionismus den Weihnachtsfrieden. Gepaart mit tiefer Enttäuschung über nicht erfüllte Erwartungen führt das schnell zu Unzufriedenheit, Krach und Zwistigkeit oder gar depressiver Verstimmung. Die gute Nachricht: Es gibt mehrere Auswege aus dem Weihnachts-Dilemma.

„Lassen Sie doch einmal die Teenager den Christbaum schmücken“, rät der Tiroler Psychotherapeut Karl Ernst Heidegger. Der Baum würde dann vielleicht nicht unbedingt traditionellem Geschmack entsprechen, „aber es tut sich was in Richtung Miteinander“. So könne sich auch der (pubertierende) Nachwuchs einbringen, etwas beisteuern. Es sei alles leichter, wenn man innerhalb der Familie die Verantwortung teilt. „Aber das muss ausgesprochen werden.“ Hätten Kinder das Gefühl, funktionieren zu müssen, würden sie schnell bockig. Auch Pseudo-Harmonie lässt Jugendliche und Kinder unter dem Christbaum revoltieren. Türen knallen und Tränen statt stille Nacht.

Der Weihnachtsabend wird oft auch durch einen Hang zum Perfektionismus ruiniert. Alles muss toll sein: der geschmückte Baum, der gedeckte Tisch, das Viergang-Menü, die Kinder, der Partner, die Stimmung. „Perfektionismus geht auf Kosten der Begegnung“, sagt Heidegger. Es dürfen auch einmal Würstl statt des Karpfens sein, den man zu bestellen vergessen hat. Es darf natürlich auch die bequeme Jean statt des engen Kleides sein. Und wenn Vater und Sohn partout nicht schon wieder „Stille Nacht“ singen wollen, tut es eine CD auch. Ein bisschen mehr Lockerheit, ein bisschen mehr Freiraum für den Einzelnen können so manches Fest stimmungsvoller machen.

Niemand kann Gedanken lesen

Alle Jahre wieder killen in vielen Haushalten auch die hohen, von der Realität abgehobenen Vorstellungen die Stimmung. Man erwartet, dass der Ehemann, die Schwester, die Tochter, die Eltern besonders freundlich und entgegenkommend sind, man erwartet Harmonie. Ein oft ausgesprochener Psychologen- und Psychotherapeuten-Rat ist daher: Der Wunsch nach friedlichen und genussvollen Feiertagen geht am ehesten in Erfüllung, wenn man sich nicht zu hohem Erwartungsdruck aussetzt. „Jeder hat unausgesprochene Wünsche. Und wenn die dann nicht erfüllt werden, knallt es. Sprechen Sie Ihre Wünsche rechtzeitig aus, niemand kann Gedanken lesen. Und überlegen Sie, was Sie selbst verändern können“, empfiehlt die Lebens- und Sozialberaterin Majda Moser.

Verändern könnte man zum Beispiel das jährliche Großfamilientreffen, das einen schon seit geraumer Zeit nur noch nervt. Oder die weihnachtliche Hetze von Onkel zu Tante, von Gans zu belegten Brötchen, die einem schon zum Hals heraushängen. Wer wirklich alle ungeliebten Pflichtbesuche absolviert, geht ständig über die eigene Grenze und wird unzufrieden und grantig. „Werden Sie kreativ, überlegen Sie sich gemeinsam Alternativen“, sagt Psychotherapeut Heidegger. Man sollte sich ruhig auf Experimente einlassen, nicht immer und unbedingt in eingefahrenen Traditionen verhaftet bleiben. „Man muss ja nicht gleich alles über den Haufen werfen, aber man darf ruhig einmal Nein sagen, man muss nicht alle Erwartungen von anderen erfüllen“, meint man bei Pro Mente Wien. „Ein liebevolles Nein kann oft erst ein gesundes Ja entstehen lassen“, ergänzt Majda Moser und rät zu geplanten Entspannungstagen. „Da macht man entweder gar nichts, liest ein gutes Buch oder noch besser, macht zu zweit oder zu dritt einen Spaziergang in frischer Luft, das tut Seele und Körper gut und schafft Raum für Gespräche und Nähe.“

Scheidungsrate hoch

Apropos: Gerade die (ungewohnte) Nähe bedeutet für viele enormen Stress und enthält in vielen Familien enormes Konfliktpotenzial. Unter dem Jahr lassen sich unausgesprochene Probleme irgendwie übergehen und übersehen, aber zu Weihnachten, wo man sich – einem rituellen Zwang ähnlich – ganz besonders Liebe und Nähe wünscht, ist eine vorhandene Beziehungskluft doppelt und dreifach spürbar. Und wenn der vorweihnachtliche Trubel der Stille weicht, ist die Leere oft groß. Man sollte auch oder gerade zu Weihnachten versuchen, ein realistischeres Bild zu entwickeln, dann fallen viele Kränkungen und Verletzungen weg. Oder man befolgt Heideggers Rat und „redet gerade jetzt zu Weihnachten über partnerschaftliche Probleme, jetzt hat man Zeit. Wenn man ewig schweigt, wird der Konflikt zu Gift“. Wenn allerdings die ganze Beziehung schon vergiftet ist, kann Weihnachten sie auch nicht kitten, deckt nur schonungslos auf. Nach den Festtagen (und nach Urlauben) gibt es jedenfalls die meisten Scheidungen.

Nicht alle, aber viele Alleinstehende spüren die Einsamkeit in der Weihnachtszeit besonders schmerzlich, viele fürchten sich Umfragen zufolge vor dem Heiligen Abend. In der Hektik des Alltags lässt sich das Alleinsein mit vielen Möglichkeiten und dank sozialer Netzwerke verdrängen, aber rund um das Fest der Familie und der Liebe ist die Einsamkeit oft erdrückend. Mitunter ist das Alleinsein aber gar nicht notwendig. „Rechtzeitig Gespräche suchen und Freunde fragen, ob man nicht gemeinsam etwas unternehmen könnte“, rät Lebensberaterin Moser. Aus ihrer langjährigen Praxis weiß sie, dass sich viele schämen, alleine zu sein. „Weil sie irrtümlicherweise glauben, sie seien weniger wert, weil sie niemanden haben. Doch das ist grundfalsch. Alleinstehende sind genau so viel wert. Und vielleicht ist ja auch der andere allein.“

Dann gibt es noch jene, die Weihnachten gerne abtun: Ihre Stehsätze wie „Wird nur überbewertet. Ist nur Kitsch“ stimmen oft nicht mit ihrer innersten Überzeugung überein. Heidegger: „Wenn dann der Heilige Abend da ist, fallen sie in ein tiefes Loch.“ Auch in diesem Fall gilt: Rechtzeitig um Alternativen zum Alleinsein kümmern, Einsamkeit hat immer wieder auch mit Eigenverantwortung zu tun.

Reden wirkt oft Wunder

Doch für alle, für die das Alleinsein während dieser Tage zur Hölle wird, ist der Weg aus der Einsamkeit besonders wichtig – die Zahl der Suicide ist jedes Jahr zu Weihnachten erschreckend hoch. „Scheuen Sie sich bitte nicht, die Telefonseelsorge oder eine andere Institution anzurufen“, fordert Marlies Matejka, Leiterin der österreichweiten Telefonseelsorge, auf. „Wir sind gerade auch für solche Probleme da, und ein bisschen reden wirkt oft Wunder.“

termine und NOTRUF-Nummern

Ein gemeinsames Weihnachts-Dinner begleitet die Lebensberaterin Majda Moser: 24. Dezember, ab 18 Uhr, Ramada Encore Vienna City Center Hotel, 28 €. Anmeldung möglichst bald: Majda Moser, +43/664/35680 48, mail@bioenergetik.at.

Bei der Weihnachtsfeier von Pro Mente Wien werden Geschichten vorgelesen, es gibt Kekse und weihnachtliche Stimmung: 24. Dezember, 14 bis 19 Uhr, Reflektor (Pressgasse 28, 1040 Wien).

Auch einige Pensionistenklubs bieten am Heiligen Abend diverse Programme: Näheres: +43/1/313 99-170 112, www.pensionistenklubs.at.

Beim sozialpsychiatrischen Notdienst heißt es: „Jeden, der unter seelischen Nöten leidet, laden wir ein, uns anzurufen oder zu uns zu kommen.“ Unter +43/1/313 30 gibt es von 00 bis 24 Uhr Hilfe im Falle von psychischen Krisen und Notsituationen.

Die Ö3-Kummernummer ist jeden Tag von 16 bis 24 Uhr erreichbar: 116123.

Auch die Telefon-Seelsorge unter 142 sowie „Rat auf Draht“ unter 147 (für Kinder, Jugendliche und Bezugspersonen) helfen im Fall der Fälle rund um die Uhr.

Der Frauen-Notruf für Gewaltopfer ist unter +43/1/717 19 rund um die Uhr zu erreichen, ebenso die zentrale Notrufnummer der Wiener Frauenhäuser 05 77 22.

Auch Österreichs Apotheken sind für die Weihnachtsfeiertage gerüstet. Welche Apotheke aktuell Dienst versieht, ist telefonisch unter dem Apothekenruf 1455 zu erfahren.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.12.2014)

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