Das Kind und der Schmerz im Kopf

Migräne
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Nicht nur bei Erwachsenen ist Migräne verbreitet, auch Kinder können darunter leiden. Speziell für sie gibt es im AKH eine Kopfschmerz-Ambulanz.

Emilia strahlt. Nicht nur, weil sie demnächst ihren zehnten Geburtstag feiert und sich schon sehr auf das Fest freut, das ihr zu Ehren abgehalten wird. Emilia strahlt auch deswegen, weil sich ihr Migräneleiden zuletzt deutlich gebessert hat. Zwei Jahre lang hat das Mädchen immer wieder unter zeitweise sehr starken Kopfschmerzen und Übelkeit gelitten. Da war selbst Spielen nicht mehr möglich.

„Wir waren beim Hausarzt, beim Kinderarzt, beim Augenarzt“, erzählt Emilias Mutter, Beatrix K. Monatelang habe sie einen Neurologen für Kinder gesucht. „Aber ich habe keinen einzigen gefunden.“ Wie froh war sie dann, als sie nach scheinbar „ewiger Wartezeit“ endlich einen Termin in der Kinder-Kopfschmerz-Ambulanz im Wiener AKH erhielt.

Diese Ambulanz ist derzeit die einzige ihrer Art in ganz Österreich – und eine von zehn renommierten weltweit. Das hat allerdings seinen Preis, denn Wartezeiten von zwölf Monaten bis zu eineinhalb Jahren sind nicht unüblich. „Derzeit stehen rund 110 Kinder und Jugendliche auf der Warteliste“, sagt Çiçek Wöber-Bingöl. Die Professorin und Fachärztin für Neurologie, Kinderneurologie und Kinderpsychiatrie hat die Kopfschmerz-Ambulanz für das Kindes- und Jugendalter 1991 gegründet. „Seither habe ich mehr als 17.000 Kinder und Jugendliche mit Kopfschmerzen betreut, etwa 95 Prozent meiner Patienten leiden unter Migräne. Sie ist eine der am stärksten belastenden Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter.“

Zu viele elektronische Medien

Die Migräne-Inzidenz bei Kleinkindern, Schülern und Jugendlichen habe, so die Fachfrau, in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Wöber-Bingöl und viele andere Experten vertreten die Hypothese, dass dieser Anstieg mit der Lebensweise generell und dem zu häufigen Kontakt mit elektronischen Medien speziell zu tun hat. Migräne sei keinesfalls, wie früher angenommen, eine psychosomatische Erkrankung. „Sie ist chromosomal determiniert, aber freilich gibt es Auslöser für eine Attacke.“ Dazu gehören unter anderem Schulstress, zu wenig Flüssigkeit, zu wenig Schlaf, aber auch zu viel Fernsehen oder zu viele Computerspiele.

Seit etwas mehr als 20 Jahren weiß man, dass Migräne im Hirnstamm ihren Ausgang nimmt. „Das ist bei Erwachsenen und Kindern völlig gleich.“ Ganz anders liege der Fall dagegen, wenn es um die Therapietreue geht, denn da seien die Kleinen den Großen enorm überlegen. Vor jeder Therapie-Empfehlung aber steht neben der klinisch-neurologischen Untersuchung (und unter Umständen einer Magnetresonanztomografie) das ausführliche Gespräch mit Kind und Angehörigen, die genaue, detaillierte Anamnese, die weit über die gewohnte ärztliche Fünf-Minuten-Diagnose hinausgeht.

„Dieses lange Gespräch mit Frau Professor Wöber-Bingöl war sowohl für mich als auch für meine Tochter ein tolles, außergewöhnliches Erlebnis. Wir haben uns beide willkommen und eigentlich richtig wohlgefühlt“, erzählt Beatrix K. begeistert. Man habe richtiggehend gespürt, dass man als Mensch und Patient ernst genommen wird, „die Ärztin ist voll und ganz auf Emilia eingegangen“.

Das ist insofern auch wichtig, als – so es keine Grunderkrankung gibt – ein zentrales Element der Migränetherapie bei Kindern ein strukturierter Tagesablauf ist. „Aber nicht stereotyp, ich erarbeite mit jedem Kind und Jugendlichen einen individuellen Tagesablauf“, sagt die Neurologin. Wichtig sei jedoch bei allen, dass zwischen dem morgendlichen Aufstehen und dem Außer-Haus-Gehen mindestens 40 Minuten liegen. „Das Gehirn braucht in der Früh eine gewisse Anlaufzeit. Lasse ich ihm die nicht, stellt das eine Reizüberflutung dar.“

Bei Emilia gibt es seit dem Besuch in der Kopfschmerz-Ambulanz keine Hektik mehr in der Früh. „Dann stehe ich halt lieber früher auf, aber das ist es wert, wenn ich dafür viel seltener Kopfweh habe.“ Auch an die Trinkempfehlung der Ärztin hält sich die Schülerin genau. „Das erste Glas Wasser trinke ich sofort nach dem Aufstehen, da braucht mich niemand daran zu erinnern, das geht inzwischen fast automatisch.“ Die ärztlich angeratenen Pausen hält Emilia ebenso ein. Und mit Begeisterung führt sie ganz selbstständig „ihr“ Kopfschmerz-Tagebuch.

Biofeedback gegen Kopfschmerz

„Alle Kinder halten sich meiner Erfahrung nach an meine Ratschläge, Kinder sind die wunderbarsten Patienten“, sagt Wöber-Bingöl. Auch ihr Rat, etwa 30 bis 60 Minuten vor dem Schlafengehen keine elektronischen Medien mehr zu nutzen – also weder Fernseher noch Computer noch Handy –, wird stets befolgt. In etlichen Fällen verordnet die Ärztin noch eine Biofeedback-Therapie. „Bei den allermeisten meiner kindlichen und jugendlichen Patienten gibt es innerhalb von sechs Wochen eine eindeutige Reduktion der Migräne-Attacken.“

Von Medikamenten als Prophylaxe hält die Kinderneurologin allerdings wenig. „Von den 17.000 Kindern, die ich bisher behandelt habe, hatten es nur rund 40 nötig. Ich will nicht aus jungen Menschen medikamentenabhängige Erwachsene machen.“ Bis zum zehnten Lebensjahr kämen die meisten überhaupt ganz ohne Medikamente aus. „Da reicht es oft aus, wenn die Kleinen bei einem beginnenden Migräne-Anfall etwas trinken und sich dann schlafen legen. Sie wachen dann häufig ohne Kopfschmerz wieder auf.“ Bei Patienten ab zehn Jahren könne und solle man als Akuttherapie aber sehr wohl Arzneimittel einsetzen. „Alle Kinder und Jugendlichen wissen bei einer einsetzenden Attacke ziemlich genau, ob es ausreicht, dass sie sich einfach schlafen legen, oder ob sie ein Medikament nehmen müssen. Die richtige Dosierung ist dabei schon äußerst wichtig.“

Substanzen als Hilfe

Als Nummer eins in der Liste der Substanzen empfiehlt Wöber-Bingöl den Wirkstoff Mefenaminsäure. Es folgen die Substanzen Ibuprofen, Paracetamol und ab dem zwölften Lebensjahr Acetylsalicylsäure. Mit Triptane – an und für sich die Königssubstanz bei Migräne – ist die Expertin sehr zurückhaltend. „Wenn die nicht wirken, dann wirkt nichts mehr. Daher kommen die erst, wenn alles andere nicht wirkt.“

Aber das ist bei den wenigsten Kindern und Jugendlichen der Fall. Emilia braucht mittlerweile nur mehr äußerst selten ein sehr mildes Medikament. „Seit ich weiß, was ich tun muss, wenn sich eine Attacke ankündigt, gehen die meisten Anfälle von allein wieder weg“, sagt das Mädchen. „Ich bin so froh, dass ich bei der Frau Doktor in der Ambulanz war.“

In Zahlen

17.000 Kinder und Jugendliche wurden seit der Gründung der Kopfschmerz-Ambulanz im AKH behandelt.

60–80 Prozent der Kinder in westlichen Ländern haben mindestens einmal in ihrem Leben Kopfschmerzen gehabt.

Migräne bei Kindern

60 bis 80 Prozent der Kinder in westlichen Ländern haben mindestens einmal in ihrem Leben Kopfschmerzen gehabt. Wenn Kleinkinder Kopfschmerzen haben, hören sie oft auf zu spielen, ziehen sich zurück, legen sich nieder. Auch eine auffällige Blässe sowie Weinerlichkeit können Ausdruck von Kopfweh bei Kindern sein.


Auslöser für eine Migräne, die auch chromosomal bedingt ist, können Veränderungen des Wach-Schlaf-Rhythmus (zu wenig oder zu viel Schlaf) sein, zu geringe Flüssigkeitszufuhr, kein oder ein zu spätes Frühstück/Mittag-/Abendessen, Schulstress, Konflikte in der Familie oder auch Ängste.
Die Dauer von Migräne ohne Aura ist bei jungen Patienten wesentlich kürzer als bei Erwachsenen – meist nur 30 Minuten bis wenige Stunden (Erwachsene leiden bis zu drei Tage). Das häufigste Begleitsymptom bei Kindern ist Übelkeit. Migräne mit Aura ist bei Kindern eher selten.


Die beste Therapie besteht oft aus Lebensstilmaßnahmen: ausreichend Schlaf, keine morgendliche Hetze, genügend trinken, regelmäßige Mahlzeiten und Entspannungspausen, weniger Fernsehen und Computerspiele. Biofeedback ist auch in etlichen Fällen angebracht, Medikamente nur in Akutstadien, nicht als Prophylaxe.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.02.2015)

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