Carl Djerassi: Der Revolutionär aus dem Labor

Carl Djerassi
Carl DjerassiDie Presse
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Er hat unser Leben verändert und sein eigenes mit einer Intensität gelebt, die man nur bewundern kann: Carl Djerassi, die "Mutter der Pille", ist 91-jährig gestorben.

Das kommt nicht häufig vor: dass ein Chemiker etwas entdeckt, das eine ganze Gesellschaft prägt. So sehr, dass seine Erfindung gar keine Spezifizierung braucht, dass es reicht, knapp von der „Pille“ zu sprechen, damit jeder weiß, es ist von einem Präparat zur Empfängnisverhütung die Rede; und von Pillen-Knick, wenn man die Entwicklung meint, dass ab 1965 weniger Kinder zur Welt gekommen sind. Erstmals gab es eine Möglichkeit für Frauen, zuverlässig und ohne Kontrolle durch den Mann, ja ohne sein Wissen, eine Schwangerschaft zu verhindern. Die sexuelle Revolution, die wilden Siebzigerjahre wären ohne Pille nicht möglich gewesen. Oder die Pille nicht ohne sexuelle Revolution. Ein Klima der Toleranz und Neugierde, die Frauenbewegung mit ihren Forderungen bereiteten dem gesellschaftlichen wie kommerziellen Erfolg von Djerassis Erfindung den Boden.

Und ja, das war eine gute Sache, auch wenn manche nicht gern von „sexueller Freiheit“ sprechen, sondern lieber von „sexueller Verfügbarkeit“, und weniger die Selbstbestimmung der Frau über ihren Körper hervorstreichen wollen als die Tatsache, dass mit Erfindung der Pille die Verantwortung für die Verhütung endgültig auf die Frau abgewälzt wurde. Doch wer weiß, wie scheel in den Sechzigerjahren unverheiratete Mütter angesehen wurden, der kann ermessen, welche Erleichterung es bedeutet haben muss, mit einem Mal gegen eine ungewollte Schwangerschaft einfach täglich eine Tablette einnehmen zu können.


Erfinder des Cortison. Als Carl Djerassi– gemeinsam mit Gregory Pincus und John Rock – die Synthetisierung des Progesteron-ähnlichen Steroids Norethindron gelang und sie damit die Voraussetzung zur Entwicklung der Pille schufen, schrieb man das Jahr 1951. Djerassi war gerade 28 Jahre alt und hatte Flucht und Vertreibung hinter sich. 1923 war er als Sohn eines jüdischen Arzt-Ehepaars in Wien auf die Welt gekommen, weil seine Mutter, eine „Urwienerin“, wie er sie in einem Interview einmal bezeichnete, darauf bestanden hatte, dass das Kind in Österreich und nicht in der Heimat des Vaters, in Bulgarien, aufwachsen sollte. Als Carl Djerassi fünf war, zog die Familie dann doch um, die Ehe zerbrach, und so kehrte Carl mit seiner Mutter nach Wien zurück. Dass die Eltern ein zweites Mal heirateten, geschah dann nicht mehr aus Liebe, sondern aus Überlebenswillen: Nur so konnten nach dem Anschluss Mutter und Sohn nach Bulgarien ausreisen – und von dort weiter in die USA.

Djerassi, der Verzweiflung stets mit Aktion zu bekämpfen schien, den sein Leben lang der Optimismus des Zweiflers auch große Krisen – etwa nach dem Selbstmord seiner Tochter – durchstehen ließ, machte rasch Karriere. Er ergatterte ein Universitätsstipendium für organische Chemie – angeblich schrieb er an die First Lady einen Bettelbrief –, schloss mit summa cum laude ab. Sechs Jahre später, er arbeitete für die Firma Syntex, kam der Durchbruch mit der Pille.

Es war das wichtigste Werk seines Lebens, auch wenn er es nicht gern hörte, weil es so klang, als seien seine späteren Arbeiten nicht von Bedeutung gewesen: 100 Patente hielt Djerassi, über 1000 wissenschaftliche Artikel schrieb er, er synthetisierte Cortison, entwickelte eine Methode zum Nachweis von Heroin im Blut. Und wenn man ihn auf die Pille ansprach, dann erbat er sich zweierlei: Dass nicht von der Anti-Baby-Pille die Rede sei, denn es sei keine Pille gegen Babys, sondern für die Frauen. Und man möge ihn doch bitte, wenn schon, nicht als Vater, sondern als Mutter der Pille bezeichnen. Bei der Entwicklung von Medikamenten sei nämlich die Chemie die Mutter, die Biologie der Vater und die Medizin die Geburtshilfe.


Romancier, Theaterautor. Und dann – und das wurde Djerassi immer wichtiger – begann er spät eine zweite Karriere als Schriftsteller. Alles Schreckliche entwickle sich bei ihm zum Guten, meinte er einmal. Ohne Nazis wäre er Arzt geworden wie seine Mutter und sein Vater; ohne steifes Bein – Folge eines Skiunfalls – hätte er in den Krieg ziehen müssen; und als man bei ihm Krebs feststellte, sei dies der Punkt gewesen, an dem er sich entschlossen hätte, noch etwas anderes anzufangen mit seinem Leben. Djerassi war knapp sechzig und begann zu schreiben. Sein erster Roman heißt „Cantors Dilemma“– der Held ist ein amerikanischer Biologe, der gegen alle Widerstände den Nobelpreis erhält, eine Auszeichnung, die Carl Djerassi vorenthalten bleiben sollte. Spätere Werke – „Bourbaki Gambit“, „NO“ – blieben entweder biografisch gefärbt oder vermittelten Wissenschaft auf belletristische Weise. „Science in Fiction“ nannte Djerassi diese aufklärerische Form.

In seinen Stücken setzte er sich unter anderem mit den Folgen der Reproduktionsmedizin auseinander. Seine These: Mitte dieses Jahrhunderts werde Verhütung nicht mehr notwendig sein, denn man werde Eizellen und Spermien einfrieren und auftauen, wenn man sie brauche.

Als Chemiker, erklärte Djerassi, sei er Amerikaner. Seine kulturellen Wurzeln, die Wurzeln für sein Schreiben, verortete er dagegen in Europa: Erst spät kam es zu einer Annäherung an Österreich, von der 2005 eine Sonder-Briefmarke zeugte: „1923 geboren, 1938 vertrieben, 2003 versöhnt“ stand darauf. Ein Zeichen dafür, dass es von seiner Seite her ernst gemeint war: 2008 überließ Djerassi – der auch als Stifter Kunst und Künstler förderte – der Wiener Albertina 65 Werke von Paul Klee und zwei Skulpturen von George Rickey.

Da war Carl Djerassi Mitte 80, pendelte zwischen seinen Wohnsitzen San Francisco, London und Wien, wenn ihn Vorträge, Lesungen und Uraufführungen seiner Theaterstücke nicht woanders hinführten. In zahlreichen Interviews auch für „Die Presse“ – das letzte erschien vor einem halben Jahr – erklärte er, wie wichtig es für ihn sei, ständig in Bewegung zu bleiben: Auf eine 80-Stunden-Woche brachte es der 90-Jährige. In der Nacht auf Samstag ist Carl Djerassi, Denker, Wissenschaftler, Autor, intellektueller Polygamist, wie er sich selbst nannte, in San Francisco einem Krebsleiden erlegen.

Steckbrief

1923
wurde Carl Djerassi in Wien geboren.

1938
Flucht mit der Mutter nach Bulgarien, ein Jahr später in die USA.
1945
Abschluss des Chemie-Studiums.

1951
Synthetisierung des Sexualhormons Progesteron, Grundlage für die Entwicklung der „Pille“. Später erforschte er unter anderem das Cortison, er brachte es auf 100 Patente und über 1200 wissenschaftlicher Publikationen.

1983
beginnt Carl Djerassi eine zweite Laufbahn als Schriftsteller, unter anderem mit „Science in Fiction“, der literarischen Beschäftigung mit Wissenschaft. Bis zuletzt reiste er als Vortragender und Lesender um die Welt. APA

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.02.2015)

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