Die unerkannten Dickmacher

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Zu viel Essen und zu wenig Bewegung sind die häufigsten Ursachen für Übergewicht. Aber es gibt auch andere Faktoren, die dabei mitspielen können – von Weichmachern in Plastik bis zur Farbe der Tischdecke.

Dick von Weichmachern? Übergewicht durch Chemikalien? Wie sie etwa in Plastikflaschen, Schläuchen für die Bluttransfusion, in Zahnbürsten oder Laufschuhen enthalten sind und über die Nahrung oder die Haut in unseren Körper gelangen?

„Bei Mäusen haben wir das jedenfalls eindeutig festgestellt“, sagt Bernd Fischer, Professor für Anatomie und Reproduktionsbiologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. „Und zwar mit DEHP, also Diethylhexylphthalat, einem der meistgebrauchten Weichmacher, der in sehr vielen Lebensmittelverpackungen und Dingen des täglichen Haushalts enthalten ist und auch aus Plastikflaschen in die darin enthaltenen Flüssigkeiten austritt. Er hat bei den Tieren eindeutig zu Übergewicht und zu einem teilweise drastischen Anstieg des gefährlichen Bauchfetts geführt.“ Derlei Chemikalien wirken auch auf die nächste Generation. „Nicht nur die Mäuse, die wir damit gefüttert haben, waren dicker, sondern auch deren Kinder.“

Könnte das auch ein Grund dafür sein, dass heutzutage schon so viele Kinder dick sind? Dass sich die Zahl übergewichtiger Kinder zwischen zwei und fünf Jahren in vielen Ländern in den letzten 30 Jahren verdreifacht hat? Fischer und andere Forscher ziehen eine Korrelation zwischen der Adipositas-Epidemie und der Kunststoffproduktion in Erwägung. „Gewisse Kunststoffbestandteile, wie etwa Weichmacher, nehmen wir täglich auf. Sie verändern den Fettstoffwechsel und die Bildung von Fettzellen. DEHP ist eindeutig ein Fettmacher. Er macht Fettzellen erwiesenermaßen dicker.“

Zu viel Essen

Es muss aber nicht unbedingt ein solcher Grund sein. Charlotte Ludwig, Wienerlied-Interpretin aus Wien, sieht die Ursache pragmatisch: „Mein Übergewicht rührt von zu viel Essen und zu wenig Bewegung her.“ Schon als Kind war die heute 58-jährige Wienerin dick. „Bereits als Zehnjährige habe ich vier Wiener Schnitzel verdrückt, weil es bei uns zu Hause üblich war, viel zu essen.“

Neben „guten Essern“ verzehrt der Mensch mehr. Essen sie ihren Teller leer und bestellen sich noch ein Dessert, ist der Tischnachbar geneigt, dies auch zu tun. Auch die Anzahl der Tischnachbarn hat Einfluss auf den Appetit: Testesser aßen in einer Dreiergruppe etwa um 50 Prozent mehr als allein, bei sieben oder mehr Mitessern waren es fast 100 Prozent mehr. Appetitanregend können aber auch Farben sein. Rot, Orange und Gelb etwa suggerieren Frische und Qualität. Auf die Essbremse drücken hingegen Blau- und Grünnuancen – sie bringt man mit verschimmelter, verdorbener Nahrung in Verbindung.

Charlotte Ludwig bescherte ihr jahrelanger Aufenthalt in Griechenland Schlankheit. Mit 18 ging sie als Reiseleiterin dorthin, „durch die andere Ernährung, die Mittelmeerkost, bin ich richtig schlank geworden.“ Zurück in Österreich ging es mit dem Gewicht wieder bergauf. Und wieder bergab: Weight Watchers, fettlose, kohlehydratarme, vegane Ernährung. Sie hat vieles probiert, „ich habe insgesamt hunderte von Kilos abgenommen.“ Aber auch immer wieder zugenommen. Derzeit versucht sie es zum zweiten oder dritten Mal mit Bernhard Ludwigs „10 in 2“ (nur jeden zweiten Tag essen, aber dann, was man will). Und im Herbst will sie nach Rogaška Slatina auf Schlankheitsurlaub.

Vernünftige Ernährung

Charlotte Ludwig können solche Unterfangen tatsächlich etwas bringen, sie ist mit fast 90 Kilogramm zwar übergewichtig, aber nicht fettleibig. „Bei Jugendlichen, die 130 Kilo, eine Fettleber, Hochdruck und vielleicht auch noch Typ-2-Diabetes haben, wird eine vernünftige Ernährung, auch in Kombination mit Bewegung, unter Umständen zu wenig sein“, sagt Kinderarzt Kurt Widhalm, Präsident des Österreichischen Akademischen Instituts für Ernährungsmedizin. „Da ist vielleicht eine Adipositas-Operation angezeigt.“ Auf dem Weltkongress der Internationalen Gesellschaft für Adipositas-Chirurgie in Wien (26. bis 29. August) ist Widhalm Chairman bei einer Session über Sinnhaftigkeit der Chirurgie im Kindes- und Jugendalter.

Eine Operation, so der Experte, solle aber immer nur der allerletzte Ausweg sein. „Sie kuriert auch die Krankheit nicht, sie hilft nur, mit dem Problem leichter fertig zu werden.“ Ob mit oder ohne Eingriff: Um langfristig Körpergewicht zu reduzieren, bedarf es einer Ernährungs-, einer Bewegungs- und einer Verhaltenstherapie. „Am besten ist ja Prävention, und zwar spätestens ab dem Kindergartenalter.“ Aber leider, so Widhalm, haben die Gesundheitspolitik und auch die Medizin in Österreich noch nicht wahrgenommen, dass Übergewicht eine chronische Erkrankung wie Krebs sei und man dagegen etwas unternehmen müsse. Viele schwer übergewichtige Kinder und Jugendliche hätten nicht nur Diabetes und Bluthochdruck, sondern auch bereits massive Probleme mit den Gelenken. „15 bis 23 Prozent unserer Kinder und Jugendlichen sind dick. Das ist bereits eine Epidemie.“

Zu viel Zucker

Die freilich auch auf den erhöhten Zuckerkonsum zurückzuführen ist. „Der Durchschnittseuropäer nimmt derzeit nur einen Bruchteil der Fructosemenge zu sich, die der Durchschnittsamerikaner in sich hineinstopft. Doch wenn TTIP kommt, dann wird Fructose gleichsam in Pipelines nach Europa gepumpt“, befürchten etliche Mediziner, darunter Markus Metka, Präsident der Österreichischen Anti-Aging-Gesellschaft.

Die renommierte Fachzeitschrift „The Lancet“ hat schon angeregt, dass man gegen Essenswerbung genauso streng vorgehen müsste wie gegen Zigarettenwerbung. Umso eher als Übergewicht ja nicht nur ein kosmetisches Problem ist. „Neben dem Alter ist es wahrscheinlich der größte Risikofaktor für Krebs. Übergewicht und Fettleibigkeit sind an der Entstehung von 17 der 22 häufigsten Krebserkrankungen beteiligt“, sagt Gynäkologe Johannes Huber. Am Medicinicum in Lech beschrieb der Autor und Ernährungskritiker Hans-Ulrich Grimm auch einen weiteren eher unbekannten Faktor für das Dicksein: den Geschmacksverstärker Glutamat. Er hat zwar per se weder viele Kilokalorien noch Fett, jedoch „beeinflusst er den Haushalt des Schlankheitshormons Leptin, das uns Sättigung vermittelt, negativ. Und man isst, isst und isst.“

Buchtipps

„Schwer verdaulich“ Wie uns die Ernährungsindustrie mästet und krank macht. Von Pierre Weill; 12,95 Euro, Systemed-Verlag.

„Die Kalorienlüge“ Wie uns die Nahrungsindustrie dick macht. Von Hans-Ulrich Grimm; 9,99 Euro, Verlagsgruppe Droemer Knaur.

„Das dicke Ende“ Warum Sie dick sind. Warum es nicht so bleiben darf. Wie Sie abnehmen. Von Burkhard Jahn; 21,90 Euro, Braumüller Verlag

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.08.2015)

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