Riesenschneck am Arm: Wie Tiere heilen können

(C) Tiere als Therapie
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Hunde, Katzen, Alpacas oder große Schnecken. Manche Tiere sind erstaunlich gute Therapeuten. Das zeigen Therapien bei ADHS-Kindern, Übergewichtigen oder Tiere zu Besuch bei älteren Menschen.

Georg, sieben, ist einer, den man früher Zappelphilipp genannt hätte: Ununterbrochen in Bewegung, keine Sekunde still. Nur wenn Anja auf seinem Arm sitzt, bleibt er minutenlang ruhig und konzentriert. Denn er will, dass sich die Schnecke zeigt und aus ihrem Haus kommt. Achatschnecken sind besonders schöne und sehr große Schnecken. „Sie bringen viel Ruhe. Das haben wir erfolgreich vor allem bei ADHS-Kindern eingesetzt“, erklärt Helga Widder, die Geschäftsführerin von Tiere als Therapie.

Achatschnecken sind nicht die einzigen Tiere, die sich erstaunlich gut als Therapeuten eignen. Hunde etwa sind exzellente Diabetes-Erkenner: Sie zeigen rechtzeitig eine Unterzuckerung an. Aber auch bei Epilepsie oder Angina Pectoris kommen Hunde als wirksame Frühwarner zum Einsatz. Auch Alzheimer-Hunde leisten gute Dienste und helfen so manchem Kranken aus seiner Erstarrung, nehmen ihm Ängste und erhöhen seine Lebensqualität. Eva Fuchswans, medizinische Leiterin im Geriatriezentrum Am Wienerwald, in dem seit gut 30 Jahren Tiertherapie angeboten wird, hat viele weitere Beispiele dafür. Sie kennt eine Parkinson-Patientin, die nicht mehr selbstständig essen konnte. „Doch sie hatte so viel Freude daran, unseren Therapiehund mit einem Löffel zu füttern. Auf diesem Weg lernte sie, ihre Bewegungen wieder besser zu kontrollieren und schließlich konnte sie auch wieder alleine essen.“

Es muss nicht immer ein Therapiehund sein, auch ein ungeschulter Spaniel oder eine Hauskatze können Gewaltiges für unser Wohlergehen bringen. Mehrere wissenschaftliche Studien zeigten: Allein die Anwesenheit eines Tieres im Raum senkt Blutdruck und Stress, stabilisiert die Herzfrequenz. Auch Muskeln entspannen sich, wenn Menschen über weiches Fell streicheln. Gleichzeitig erhöht sich das Wohlbefinden – denn beim Spiel mit Hund und Streicheln von Katze oder Kaninchen werden vermehrt Glückshormone produziert, das Kuschel- und Bindungshormon Oxytozin steigt an. Hunde sorgen auch für positive Effekte im Büro: Sie können bei ihren Eigentümern die Effizienz steigern und die Fehlzeiten durch Krankheit senken. Apropos Krankheit: Beim Spiel mit dem Tier werden auch Beta-Endorphine ausgeschüttet, die das Schmerzempfinden verringern. Einer internationalen Studie zufolge, die den Effekt eines Haustieres auf Menschen untersuchte, müssen Tierbesitzer weniger oft zum Arzt gehen und weniger Medikamente schlucken. So können Tiere in ganz konkreten Fällen weiterhelfen:

Hunde im Schulunterricht

Die wissenschaftlich belegten, positiven Auswirkungen, die Hunde auf Kinder haben, fasst das Unterrichtsministerium in dem Leitfaden „Hunde in der Schule“ zusammen. Die Kinder werden ruhiger, interessierter, gehen lieber zur Schule, Selbstvertrauen, Verantwortungsbewusstsein und Lernfreudigkeit werden gesteigert, das Klassenklima gebessert. Das hat auch Tierforscher Kurt Kotrschal überrascht: Allein die Anwesenheit eines Hundes im Klassenzimmer minderte das Aggressionspotenzial der Schüler signifikant und steigerte die Aufmerksamkeit, ergab eine Studie an einer Wiener Volksschule. „Ein Hund kann ein wichtiger Türöffner sein, um sich auf andere und damit auch auf sich selbst einzulassen“, berichtet eine Lehrerin eines sonderpädagogischen Zentrums.

Kinder profitieren auch, wenn sie mit Tieren unter einem Dach leben. Sie werden ausgeglichener und kooperationsbereiter als Gleichaltrige und sind mitunter auch dank der zusätzlichen Bewegung generell gesünder, haben ein besseres Immunsystem. Dadurch werden sie besser in der Schule und gewinnen an Einfühlungsvermögen. All das allerdings nur, wenn sie (von den Eltern) gelernt haben, dass das Tier Partner und nicht Spielzeug ist.

Samson und Oskar: Therapie mit Alpaca

Mit Alpacas, Zwergziegen und Mulis will Wolfgang A. Schuhmayer Menschen mit Selbstwertproblemen, seelischen Verletzungen, Ängsten, Burn-out, Depression oder Konzentrationsstörungen helfen. „Alpacas, sehr ruhige, ausgewogene und freundliche Tiere, zeigen ein sehr hohes Maß an Toleranz und Zuwendung. Sie gehen auf Menschen zu, vermitteln Geborgenheit durch Nähe, Wärme und Berührung und eignen sich vor allem bei schweren seelischen Verletzungen“, sagt er, der seit fast drei Jahren am Brigindohof im niederösterreichischen Großmotten das Institut für tiergestützte Therapie und Forschung betreibt. In seinem Buch „Medizinisch orientierte tiergestützte Therapie“ berichtet er von einer 40-jährigen Frau, die zwischen ihrem 13. und 18. Lebensjahr sexuell missbraucht worden war, seither an einem massiven Trauma litt und immer wieder Selbstmordgedanken hegte. „Erst der regelmäßige Kontakt mit Samson und Oskar, zwei meiner Alpacas, hat der Frau wirklich geholfen, und das relativ rasch.“ Denn, so Schuhmayer, im Gegensatz zur herkömmlichen Gesprächstherapie, bei der nicht selten jahrelang über eine Verhaltensänderung theoretisiert werde, „können die Betroffenen im Kontakt mit Tieren sofort gelebte Problemlösung erleben“.

Hunde als Antidepressivum

Gonzo, braun, Mischling und gerade einmal 30 Zentimeter hoch, hat die 37-jährige Tanja Buburas wieder ins aktive Leben geholt: Die einst erfolgreiche Kommunikationswirtin aus München litt jahrelang unter massiven Panikattacken und Angststörungen, wagte sich immer wieder monatelang nicht vor die Tür und verlor schließlich Mann und Job. Sieben Jahre hatte sie es mit allen möglichen Therapien versucht, auch monatelange Aufenthalte in psychosomatischen Kliniken, ein Jahr stationäre und ein Jahr ambulante Rehabilitation hatten immer nur kurzfristige Erfolge gebracht. Bis sie nach einer tiergestützten Therapie mit einem anderen Hund auf Gonzo kam. „Gonzo hat mir mein Leben wieder geschenkt“, sagt Buburas. Früher hatte sie sich oft versteckt, mit dem neuen vierbeinigen Begleiter war das nicht mehr möglich. „Ich habe durch ihn die Angst vor den Menschen allmählich verloren und tolle Kontakte geknüpft. Gonzo hat mich aus meiner Einsamkeit geholt.“ Ihr Leben vor und mit Gonzo beschreibt Tanja Buburas berührend in dem Buch „Ein Hund ist ein Herz auf vier Beinen. Wie Gonzo meine Angst verjagte.“ Menschen, so die Autorin, hätten ihr nie dermaßen helfen können wie dieses Tier. „Es ist unermesslich, was meine Beschäftigung mit ihm für meine Gesundheit bewirkt hat.“

Rio ist die Ruhe selbst. Der schöne Königspudel strahlt innere Balance und Zufriedenheit aus. Aber das war nicht immer so: Als Welpe war er eher unruhig, hatte kaum etwas gefressen. „Ich habe ihm das Beste vom Besten gekauft, aber Rio hat es einfach links liegen lassen“, erzählt Besitzer Laurent Amann. „Irgendwann bin ich draufgekommen, dass Rio mir einen Spiegel vorgehalten hat, ich habe damals auch extrem wenig und kaum was Gescheites gegessen.“ Amann hatte damals seinen Job als Tier-Verhaltensforscher an der Uni Wien aufgegeben und sein Leben komplett umgekrempelt. „Das war nicht so einfach und stressig, da war das Essen einfach sekundär.“ Nachdem Rio sein Herrchen darauf aufmerksam gemacht hatte, änderte Amann – der heute als Tierflüsterer und -therapeut arbeitet – seine schlechten Essgewohnheiten, der Hund auch. Dieses und mehrere ähnliche Erlebnisse waren Anlass für das Buch „Mein Hund hat eine Seele“.

„Hunde fühlen wie wir Trauer, Angst, Freude, Einsamkeit. Und sie registrieren diese Gefühle bei uns, sie haben ganz feine Antennen. Man kann sehr viel von seinem Haustier über sich selbst lernen“, sagt Co-Autor Asim Aliloski, Mentaltrainer und Unternehmensberater. Hunde spiegeln den Menschen jederzeit. „Sie wollen einschätzen wie es dem Rudel geht, sie nehmen Stimmungen auf, erspüren unsere Seelenlage. Und sie schicken uns ständig Botschaften, die uns einen neuen Raum für Heilung und Entwicklung öffnen. Diese Botschaften aber können wir nur verstehen, wenn wir auf die Bedürfnisse der Vierbeiner achten.“ Das Buch soll dabei quasi als Leitfaden und Hilfestellung fungieren.

Katzen und Kaninchen im Altersheim

Auch Katzen und Kaninchen können zu Therapie-Tieren ausgebildet werden. „Das ist zwar ein bisschen schwieriger als bei Hunden, aber keinesfalls unmöglich. Und Katzen und Kaninchen werden genauso einem Prüfungsprogramm unterzogen wie Hunde“, sagt Helga Widder, Geschäftsführerin von Tiere als Therapie. Bei der T.A.T-Ausbildung wird auf das Wohlbefinden der Tiere großen Wert gelegt. „Patienten, die sonst den ganzen Tag nur apathisch im Bett liegen, stehen auf, ziehen sich fein an, wenn Katzenbesuch angesagt ist. Tiere sind also auch Physiotherapeuten, die Menschen zur Bewegung bewegen. Tiere können Menschen motivieren“, sagt Eva Fuchswans, die nach der Schließung des Geriatriezentrums am Wienerwald Tierprojekte in den Pflegewohnhäusern Donaustadt und Baumgarten begleiten wird. „Weil Tiere so wahnsinnig viel Gutes bewirken können.“ Patienten beispielsweise, die nicht und nicht essen wollen, löffeln plötzlich brav ihre Suppe, wenn sich ein Tier in der Nähe befindet.

Martin H., dem 80-jährigen Katzenliebhaber, haben seine Lieblingstiere auf andere Weise geholfen. Der Mann wollte absolut nicht duschen und wurde extrem aggressiv, wenn das Pflegepersonal das von ihm forderte. „Als erstmals Katzen zu uns ins Haus kamen, hat man Herrn H. erklärt, dass diese Tiere sehr reinlich seien und er nur zu ihnen dürfe, wenn er sich dusche“, erzählt Fuchswans. Seither duscht Herr H. sehr gerne.

Kaninchen Dora lässt sich gern von den Bewohnern des Pflegeheims streicheln. Viele von den alten Leuten würden das Haus nicht mehr verlassen wollen, aber wenn Dora zu Besuch angesagt ist, gehen sie doch hinaus – Löwenzahn pflücken, um ihn später verfüttern und das Tier mit dem seidenweichen Fell streicheln zu können. „Und wenn die alten Menschen Karotten für Dora schälen und raspeln, haben sie wieder eine Aufgabe. Außerdem trainiert das gleichzeitig die Feinmotorik.“ Zudem geben Kaninchen und Co. geriatrischen Patienten etwas, was ihnen viele Menschen verwehren: das Gefühl, noch gebraucht und geliebt zu werden. Sie nehmen jeden Menschen vorbehaltlos an.

In Kindergärten können Kaninchen und Katzen bei den Kleinen die Fähigkeit zu nonverbaler Kommunikation und das Verantwortungsbewusstsein der Kinder fördern. „Sie suchen dann Kräuter für das Kaninchen, helfen beim Ausmisten und bei der Pflege“, so Helga Widder.

Hunde gegen Fettleibigkeit

Alexandra Hromada, klinische Psychologin beim Wiener Ärzte- und Therapiezentrum Mediclass, wollte wissen, inwieweit tiergestützte Therapie mit Hunden die Lebensqualität von schwer übergewichtigen, also adipösen, Menschen beeinflusst und führte eine Studie durch. Erkenntnis: Etlichen Menschen, die schon lange unter Fettleibigkeit litten, hat erst die Beschäftigung und Therapie mit den Vierbeinern eine respektable Gewichtsabnahme von bis zu 21 Kilogramm in einem halben Jahr beschert. „Das, was die Hunde auf nonverbaler Ebene vermitteln, geht viel tiefer als alles, was ein Arzt oder Psychologe sagt“, sagt sie. Sie möchte demnächst wieder eine Studie mit schwer übergewichtigen Menschen und Hunden starten, Interessierte können sich noch bis Mitte April melden (a.hromada@mediclass.com).

„Der Umgang mit unseren Therapiehunden hat das Selbstwertgefühl der adipösen Menschen gesteigert“, erzählt Hromada. „Zum Abnehmen gehört schließlich auch innere Stärke, Kalorienzählen allein ist viel zu wenig.“ Abgenommen haben auch die Unsicherheiten der Patienten und ihre Angst, wie sie von anderen gesehen und angenommen werden. „Das ist eine große seelische Entlastung.“ Die fast schon logische Folge: Die Teilnehmer freuten sich allesamt über gesteigerte Selbstfürsorge, Zielstrebigkeit und Lebensqualität und waren den Tieren sehr dankbar. Denn Hunde sind authentisch, sie werten nicht, lieben den Menschen, wie er ist, ob dünn oder viel zu dick, ob superintelligent oder dement, Hunde lieben ohne Vorbehalt.

Bücher, Termine, Adressen

Bücher:
„Ein Hund ist ein Herz auf vier Beinen – Wie Gonzo meine Angst verjagte“, Tanja Buburas und Shirley Michaela Seul, 224 Seiten, 20,60 €, Verlag Nymphenburger (2015).

„Mein Hund hat eine Seele – Was Ihr Hund schon immer sagen wollte & was Sie von ihm lernen können“, Laurent Amann und Asim Aliloski, 248 Seiten, 19,95 €, Goldegg Verlag (2015).

„Medizinisch orientierte tiergestützte Therapie – rasche Hilfe gegen Angst, Burn-out, Depressionen & Co.“, Wolfgang A. Schuhmayer, 132 Seiten, 29,90 €, Verlagshaus der Ärzte (November 2014).

„Was dein Tier dir sagen will. Wahre Geschichten von Liebe, Trost und Treue“, Pea Horsley, 384 Seiten, 20,60 €, Verlag Arkana (2015).

„Mein Katzenflüsterer hilft“, Reinhard Mut, tierärztliche Tipps von Dr.med.vet Hannah Vielgrader, 96 Seiten, 14,90 €, Verlag Ennsthaler (2007).

Termine:
Der „Dogfather“ der Hundeerziehung, Martin Rütter, zeigt bei seinem neuen Programm „nachSITZen“ tiefenpsychologisch und humorvoll Aspekte menschlich-tierischer Beziehungen auf. Im Oktober ist er dreimal in Österreich (Wiener Neustadt, Linz, Innsbruck). Mehr unter www.martin-ruetter-live.de.

Webadressen:
www.tierealstherapie.org
www.bmbf.gv.at/schulen/unterricht/ba/hundeinderschule
www.aiaatr.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.08.2015)

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