Agoraphobie: "Draußen bin ich schutzlos"

Vor der Weite am Ufer der Binnenalster in Hamburg hätte sich Leonie Jockusch früher gefürchtet.
Vor der Weite am Ufer der Binnenalster in Hamburg hätte sich Leonie Jockusch früher gefürchtet.(c) Maria Kotylevskaja
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Sie wagte es nicht mehr, aus dem Haus zu gehen: Leonie Jockusch litt unter Agoraphobie, der Angst vor weiten Flächen. Mit einem Buch lädt sie zum Kampf gegen die Furcht.

Als Leonie Jockusch 14 Jahre alt ist, schlägt ein Blitz in das Haus ein, in dem sie mit ihren Eltern lebt. „Bis dahin hatte ich Gewitter immer gern“, sagt sie. Nach dem Blitzeinschlag zieht die Familie für ein halbes Jahr in einen Wohnwagen. „Wir mussten warten, bis der Dachstuhl wieder aufgebaut war. Unser Haus war komplett kaputt.“

Der Blitz ist damals aber nicht nur im Dach eingeschlagen. Sondern auch in Jockuschs Innenleben. Weite Plätze, freie Felder beginnen, ihr unheimlich zu werden – wo kein Haus, da kein Schutz. Sie habe ständig Angst gehabt, vor einem Gewitter nicht fliehen zu können, keinen Unterschlupf zu finden. „Es war die Angst, schutzlos zu sein“, sagt Jockusch. Angst vor großen Plätzen, weiten Flächen. Heute, knapp dreißig Jahre nach dem Blitzeinschlag, hat Jockusch eine viel genauere Definition für das gefunden, was damals in ihr Leben Einzug gehalten hatte: Es war eine Agoraphobie, eine Angststörung. Die Angst vor dem Ausgeliefertsein.

„Die übertriebene Angst vor bestimmten Situationen, denen man im Notfall nur schwer entfliehen könnte“, so beschreibt Jockusch sie – in einem Buch, das die Autorin über die Angststörung geschrieben hat. Menschenmengen, öffentliche Plätze, Reisen ohne Begleitung, große Entfernung von Zuhause: All das macht Agoraphobikern größte Probleme, führt zu Panikattacken und dazu, dass viele von ihnen die eigenen vier Wände gar nicht mehr verlassen können. Depression, Einsamkeit, sozialer Rückzug und Abhängigkeit von einer letzten Bezugsperson sind die Folge. Auch werden viele Betroffene Alkoholiker – denn Alkohol ist ein einfaches Beruhigungsmittel.

Im Grunde gehe es bei den Situationen, die Betroffenen so große Angst machen, um Kontrollverlust, sagt Jockusch. „Etwa im Fahrstuhl oder auf einem Schiff: Man gibt die Kontrolle ab. Man kann kein Flugzeug mal eben anhalten, wenn man Panik bekommt.“

Eine andere Ausprägung der Agoraphobie ist die Angst vor physischen Problemen wie einem Herzinfarkt oder einem Ohnmachtsanfall, gar vor einem plötzlichen Tod: „Betroffene haben Angst, dass sie dann keiner findet, wenn sie so bewusstlos daliegen.“

Bei Jockusch selbst sei das anders gewesen: „Das war eine ganz unbestimmte Angst. Nichts Körperliches. Nur dieses Gefühl: In der Mitte eines großen Platzes – da ist kein Halt.“ Für die Hamburgerin waren Wege über große Plätze der pure Horror. „Ich dachte dann immer: Wenn du an der Ecke des Hauses bist, hast du es geschafft, dann bist du wieder sicher.“ Am schlimmsten für sie? Der Hamburger Rathausmarkt, an dessen Enden Bus- und U-Bahnstationen und zwei große Einkaufsstraßen liegen. Jockusch muss ihn also oft bezwingen.

Etwa ein Jahrzehnt lang kämpft die Autorin mit ihrer Angst vor dem Draußen; am schlimmsten sei es zwischen 20 und 25 gewesen, meint sie. Als sie dann zum ersten Mal Mutter wird, verschwindet die Angst: „Ich hatte dafür plötzlich keinen Kopf, keine Kapazitäten mehr.“ Quasi keine Zeit für eine Angststörung. Dass sie von einer betroffen gewesen war, erfuhr Jokusch auch erst, nachdem die Krankheit aus ihrem Leben verschwunden war – durch Zufall, beim Lesen einer Beschreibung.

Nicht allein

Extrem befreiend sei diese Entdeckung für sie gewesen. Dass sich ihr früherer Zustand mit einem tatsächlichen Krankheitsbild deckt, ist für Jockusch eine Erleichterung: „Das hieß: Ich war damit nicht allein, ich hatte mir das all die Jahre nicht eingebildet.“ Und auch: „Es gibt Lösungen, sollte das mal wiederkommen.“

Aus diesem Ansporn heraus schreibt die 41-Jährige auch das Buch. „Drinnen ist besser“ heißt es. Nach zwei Romanen ist es eine Art Hilfe-zur-Selbsthilfe-Buch geworden. „Vermutlich habe ich auch so ein Helfersyndrom“, meint Jockusch: Die Idee zu dem Buch kam ihr, als sie einer Freundin half, deren eigene Angststörung zu erkennen: „Auch für sie war es gut, endlich zu wissen: Da ist was. So wie zu wissen: Ich habe Herpes, ich habe eine Laktoseintoleranz, und dass es ganz viele Menschen gibt, die das ebenfalls haben – und dass man das behandeln kann. Das ist hilfreich für einen selbst.“

Ob sie damit nicht ein Buch geschrieben habe zu einem Thema, das gerade einfach modern ist? Jockusch will das gar nicht leugnen. „Wir hier haben diese norddeutsche Art zu sagen: Ach, heute hat jeder irgendeine neue Erkrankung. Aber es ist nun einmal so, dass in unserer Zeit der Stress wirklich enorm hoch ist – und dass die Menschen eher krank werden.“ Das sei immerhin statistisch nachweisbar, das habe sich auch im Gespräch mit Experten bewahrheitet.

Und geht es nach Jockusch, wird trotz vieler Erkrankungen nach wie vor viel zu wenig über psychische Probleme öffentlich gesprochen. Und auch etwas anderes stört sie. Während ihrer Recherchen bemerkte sie, dass Frauen viel häufiger von Agoraphobie betroffen sind. Männer, meint Jockusch, würden häufig mit einem Bild erzogen, das Gefühle fast verbiete: „Nun heul mal nicht, du bist ja kein Mädchen.“ Auf Frauen hingegen würde großer Druck lasten: „Man ist Mutter und auch Hausfrau, und gleichzeitig hat man einen Vollzeitjob. Es wird so viel von einer Frau erwartet.“

Die Arbeit an dem Buch forderte die Autorin sehr: Die persönliche Auseinandersetzung mit ihrer alten Krankheit war intensiv. „Ich testete mich auch selbst – ich stellte mich etwa in Menschenmassen hinein.“ Und da, sagt sie, hätte das Herz wieder schneller zu klopfen begonnen. Nicht aus tatsächlicher Angst – es sei viel mehr die Erinnerung an die Angst gewesen.

Jockusch weiß: Die Furcht kann irgendwann zurückkommen. Aber sie weiß auch: Man kann sie heilen. Diese Angst bekommt sie nicht mehr.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.10.2015)

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