Medikamente: Überwachung rettet Leben

APA/dpa
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Auch nach der Zulassung werden neue Arzneimittel gezielt überwacht und bewertet: Häufig treten dann bis dahin unbekannte Nebenwirkungen auf. Ärzte wären verpflichtet, diese zu melden, Patienten sind dazu aufgerufen.

Medikamente können töten. Neben dem jüngsten tragischen Fall in Frankreich (ein Toter bei Medikamententests) gibt es in Europa jährlich Tausende von Todesfällen, die auf unerwünschte Medikamentennebenwirkungen oder Interaktionen von Arzneimitteln untereinander zurückzuführen sind. Viel höher ist natürlich die Zahl jener Menschen, denen Medikamente geholfen, eine Operation erspart oder gar das Leben gerettet haben. Man denke nur an Chemotherapie, Antibiotika oder Insulin. Ganz zu schweigen von den Millionen Menschen, die durch Arzneimittel Schmerzlinderung erfahren.

Freilich: Wirksame Medikamente haben auch ihre Nebenwirkungen, bekannte und unbekannte. Letztere tauchen vor allem bei Präparaten auf, die noch jung am Markt sind. Diese Medikamente wurden vielleicht an 10.000, 20.000 Probanden getestet, nach der Zulassung schlucken sie aber vielfach mehr Menschen. „Und da treten dann Nebenwirkungen auf, die man in den klinischen Studien gar nicht beobachten konnte“, sagt Christa Wirthumer-Hoche, Geschäftsfeldleiterin der Medizinmarktaufsicht bei der AGES (Österreichische Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit). Seit einigen Jahren werden daher Arzneimittel, die bereits auf dem Markt sind, hinsichtlich ihrer Nebenwirkungen genau überwacht und bewertet, man nennt das Pharmakovigilanz.

Folge des Contergan-Skandals

Die Pharmakovigilanz ist indirekt eine Folge des Contergan-Skandals – damals, in den 1960er-Jahren, gab es noch kein System, das Arzneimittel respektive deren Nebenwirkungen nach der Zulassung überwachte. Nach dem Contergan-Drama wurde der Ruf nach besserer Überwachung laut und die Pharmakovigilanz in etlichen Ländern etabliert. Bei der Zulassung eines Medikamentes können nämlich nie und nimmer alle Risken bekannt sein. Eine Nebenwirkung, die beispielsweise in der Häufigkeit von eins zu 10.000 auftritt, sprengt denn auch alle Möglichkeiten von Zulassungsstudien. Nicht nur, dass es nahezu aussichtslos wäre, genügend Patienten dafür zu finden, würden die Kosten für die Entwicklung eines Medikaments, schon jetzt häufig mehr als eine Milliarde Euro, in schier unfinanzierbare Höhen schnellen.

Ärzte melden zu wenig

„Bei Chloramphenicol beispielsweise brauchte man 40 Jahre, bis man erkannt hat, dass dieses Breitbandantibiotikum die potenziell tödliche Krankheit aplastische Anämie auslösen kann“, sagt Michael Freissmuth, Vorstand des Instituts für Pharmakologie der Medizinischen Universität Wien. Das hat deswegen so lange gedauert, weil diese Nebenwirkung mit drei bis 17 von 100.000 Fällen äußerst selten ist. „Und auch, weil die Pharmakovigilanz bei der Einführung dieses Antibiotikums noch in den Kinderschuhen steckte.“ Diesen ist sie zwar heute entwachsen, dennoch lässt die Meldefreudigkeit von Nebenwirkungen in Österreich zu wünschen übrig.

Ärzte, Apotheker und andere Angehörige der Gesundheitsberufe hätten zwar Meldungspflicht, kommen dieser aber nicht immer nach. „Und auch bei dem Register, in das alle entsprechenden Patientendaten eingebracht werden sollten, hapert es häufig am Unwillen der Ärzte“, bedauert Freissmuth. Dabei könnte durch konsequent betriebene Pharmakovigilanz schätzungsweise jeder zweite bis dritte arzneimittelinduzierte Todesfall und jede vierte Medikamentennebenwirkung verhindert werden.
„Noch viel zu wenig bekannt ist, auch in Fachkreisen, dass seit einiger Zeit auch Patienten Nebenwirkungen entweder schriftlich mittels Meldeformblatt oder auf elektronischem Weg über Vigiweb melden können“, betont Wirthumer-Hoche. Entsprechende Meldungen können an das Bundesamt für Sicherheit im Gesundheitswesen (BASG) weitergeleitet werden.

Alle Nebenwirkungen werden europaweit gesammelt, bewertet und evaluiert. Wirthumer-Hoche: „Einmal im Monat trifft sich der Ausschuss für Risikobewertung und Pharmakovigilanz in London und beschließt, was zu machen ist.“ Vom Markt genommen wird ein Medikament nur in wenigen Fällen – wie etwa 2010 das Diabetes-Mittel Avandia (Rosiglitazon) auf Grund eines erhöhten Herzinfarktrisikos. Viel häufiger sind Änderungen in der Fach- und Gebrauchsinformation beispielsweise hinsichtlich des Alters der Patienten, der Therapiedauer oder Wirkstoffdosis.
Viele erinnern sich vielleicht noch an die Sache mit den Anti-Übelkeitstropfen Paspertin. „Das Medikament, respektive sein Wirkstoff Metoclopramid, führte vor allem bei Kindern oder bei Überdosierung zu Nebenwirkungen wie Muskelkrämpfen oder kurzzeitigen neurologischen Reaktionen“, schildert Wirthumer-Hoche. Die Konsequenz vor rund eineinhalb Jahren: Tropfen in höherer Konzentration (ab mehr als einem Milligramm Wirkstoff pro Milliliter) wurden verboten, die Therapiedauer auf maximal fünf Tage reduziert. Auch für das Schmerzmittel Codein führte die Pharmakovigilanz vor Kurzem zu einer weitgreifenden Änderung: Hustensaft mit dem Inhaltsstoff Codein darf seit Oktober 2015 zur Behandlung für Kinder unter zwölf Jahren nicht mehr herausgegeben werden, für Jugendliche von zwölf bis 18 Jahren wird Codein nicht empfohlen.

Bitte an die Patienten

In Österreich hatten wir diese Einschränkung schon länger, denn Codein wurde bei Kindern immer wieder überdosiert und führte so zu Atemstörungen“, sagt Wirthumer-Hoche. „Es wäre toll, wenn uns mehr Patienten von den Nebenwirkungen, die sie selbst oder Verwandte und Betreuungspersonen bemerken, berichten würden.“ Denn, wie erwähnt: Pharmakovigilanz kann Leben retten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.01.2016)

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