Demenz: Wenn der Vorhang fällt

Symbolbild.
Symbolbild.(c) APA (HARALD SCHNEIDER)
  • Drucken

Neue Studien zeigen, dass es – anders, als bisher angenommen – weniger Neuerkrankungen geben wird. Dennoch steigt mit der Lebenserwartung die Zahl der Patienten – sie und ihre Angehörigen brauchen dringend Hilfe.

Eine graue Welle wird über Europa schwappen. Die Gesellschaft wird älter und vergesslicher – so lauten die Prognosen. Weltweit leben rund 47 Millionen Menschen mit einer Demenzerkrankung, sagt die Statistik von 2015. Bis 2030 sollen es sogar 75 Millionen sein. In Österreich sind es derzeit rund 130.000 Menschen, bis 2050 wird die Zahl voraussichtlich auf 260.000 steigen.

Überraschend ist in diesem Zusammenhang eine gerade veröffentlichte Studie aus Großbritannien, die diese Annahmen sprichwörtlich alt aussehen lässt. Carol Brayne von der Universität Cambridge fand mit ihren Kollegen heraus, dass das Risiko, an Alzheimer (siehe Kasten rechts) zu erkranken, nämlich nicht mit der Lebenserwartung gestiegen, sondern in den vergangenen 20 Jahren sogar gesunken ist. Ein 80-Jähriger hat demnach ein um 20 Prozent geringeres Risiko, an Alzheimer zu erkranken, als jemand, der in den 1980er-Jahren 80 Jahre alt war. Statistiken zu Neuerkrankungen aus Dänemark, Schweden und den Niederlanden untermauern die britischen Forschungsergebnisse.

Demenzforscher und Molekularbiologe Konrad Beyreuther von der Universität Heidelberg erforscht Demenzerkrankungen seit mehr als 30 Jahren. Er ist ob der neuen Erkenntnisse nicht überrascht, die Ergebnisse seien aus unterschiedlichsten Gründen logisch. Einerseits hätten sich die Diagnoseverfahren durchaus geändert. Heute können Krankheiten, die früher als Demenz eingestuft wurden, besser abgegrenzt werden. Als Hauptgrund für den Rückgang von Alzheimer, der neben Krebs als die große Epidemie der Bevölkerung bezeichnet wird, sieht er aber den Lebenswandel der Gesellschaft. „Es gibt einige Indikatoren, die Alzheimer deutlich begünstigen: Zu wenig Bewegung und schlechte Ernährung sind zwei davon“, sagt er. Auch Bildung – also Gehirntraining – ist ein Faktor. „Bei gebildeten Menschen dauert es viel länger, bis die Krankheit greift. Ihr Hirn ist viel geschädigter, wenn sie sterben“, sagt der Forscher.

Alzheimer ist eigentlich nichts anderes als Ablagerungen im Gehirn, die zuerst die Zellverbindungen kappen, was in weiterer Folge zu einem Absterben dieser führt. Gebildete Menschen haben aktivere Zellverbindungen, insofern dauert es länger, bis die Krankheit Schaden anrichtet. „In den vergangenen Jahren wurden all diese Faktoren aber deutlich reduziert, weil die Bevölkerung deutlich gebildeter ist, sich bewusster bewegt, sich mehr bewegt“, sagt Beyreuther. Obwohl also die Neuerkrankungen sinken, heiße das nicht, dass es nicht mehr Patienten gebe. Das steigende Durchschnittsalter frisst den Vorteil der sinkenden Neuerkrankungen quasi auf. „Früher ist man einfach früher an anderen Krankheiten gestorben“, sagt Beyreuther.

Wenig Trost. Für Nelli (72) und Bertl (75) Gotswinter sind all diese Erkenntnisse wenig tröstlich – denn bei Herrn Gotswinter wurde die Krankheit 2010 diagnostiziert. Eine Heilung gibt es nach wie vor nicht. „Anfangs hat er nur komische Sachen gemacht – wusste etwa den Weg zu einem Lokal nicht mehr, in dem wir uns verabredet haben, oder hat sich verfahren“, erinnert sich Nelli Gotswinter, die ihren Mann seit der Diagnose liebevoll zu Hause pflegt.

Knapp sechs Jahre später ist ihr Mann ein schwerer Pflegefall – er sitzt im Rollstuhl. Wenn er spricht, versteht man kaum, was er sagt. „Alles hat sich verändert in unserem Leben“, sagt sie. Jeder Tag hat einen strikten Zeitplan. Frühstück um halb elf. Um elf kommt der Pflegedienst. Waschen, in den Rollstuhl setzen, Mittagessen kochen. Dann bekommt Herr Gotswinter, der früher Installateur war, einen Stapel Fotos – den er sich stundenlang ansieht und sich vielleicht manchmal an die Menschen, die dort abgebildet sind, erinnert. Seine Frau schläft dann eine Stunde, bis die Nachmittagsbetreuung kommt. Dann hat Frau Gotswinter rund drei Stunden Freizeit – für Besorgungen und um ab und zu jemanden zu treffen. Am Abend kommt wieder der Pflegedienst, wäscht ihren Mann und bringt ihn ins Bett. Sie wäre dazu körperlich nicht in der Lage. „Dann lese ich ihm vor oder versuche mit ihm eine Stunde zu plaudern“, sagt sie. „So wie wir das früher gemacht haben.“ Sie hätten oft stundenlang geredet.

„Gesundheit ist dasjenige Maß an Krankheit, das es mir noch erlaubt, meinen wesentlichen Beschäftigungen nachzugehen“, sagte Friedrich Nietzsche einmal. Wenn es um die Krankheit Alzheimer geht, ist das ein sehr langer Zeitraum – denn sie beginnt rund 30 Jahre, bevor sich die ersten Symptome zeigen. Mittels bildgebender Verfahren sind die Ablagerungen schon lang vor Ausbruch im Hirn sichtbar. Wenn es dann so weit ist, geht es plötzlich aber fast zu schnell, findet Frau Gotswinter. „Aber Krankheitszeit ist auch Lebenszeit“, sagt sie. Diese will sie nutzen und für sie beide eine möglichst gute Lebensqualität bis zum Schluss erzielen.

Geduld und Geld. „Es ist nicht so, dass das plötzlich ein anderer Mensch ist. Alzheimerpatienten brauchen viel Liebe – und dann kann man ihnen immer wieder die Scheune der Erinnerung öffnen“, sagt Beyreuther. „Es soll der Mensch interessieren, nicht die Krankheit“. Dafür brauche es Geduld und aber auch mehr Geld. Rund 2000 Euro wendet Frau Gotswinter jedes Monat für die Pflege ihres Mannes auf. Geld, das sie nur schwer auftreiben kann.

Die Regierung hat erkannt, dass es hinsichtlich der Krankheit und der steigenden Patientenzahlen Handlungsbedarf gibt. Ende 2015 wurde eine Demenzstrategie vorgelegt. Man wolle demenzgerechte Versorgungsangebote sichern, die betroffenenzentrierte Koordination und Kooperation ausbauen sowie eine Qualitätssicherung und -verbesserung durch Forschung, heißt es.

Ein weiterer Punkt: Wissen und Kompetenz solle gestärkt werden – auch darum fand vergangene Woche in Wien ein Demenzsymposium statt. Michael Landau, Präsident der Caritas, die viele Einrichtungen für Demenzkranke hat, hat dort befunden: „Wir brauchen Querdenker, weil wir in allen Handlungsfeldern der Gesellschaft nicht auf das Anstehende vorbereitet sind.“

Diagnose

Demenz leitet sich vom lateinischen Wort Dementia oder Demens ab, was so viel wie „ohne Geist“ bedeutet. Demenz ist der Überbegriff von Krankheiten, mit denen Gedächtnisverlust einhergeht. In 80 Prozent der Fälle heißt die Diagnose Alzheimer.

Betroffene. Derzeit gibt es rund 130.000 Demenzkranke in Österreich. Weil die Gesellschaft altert, sollen es bis zum Jahr 2050 bis zu 260.000 Menschen sein.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.04.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Gesundheit

Alzheimer-Prävention: 600 Kniebeugen und Kaffee

Demenz ist bisher unheilbar. Dennoch ist man der Krankheit nicht hilflos ausgeliefert: Körperliches und geistiges Training sowie gute Ernährung haben vorbeugende Wirkung.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.