Wenn die Stoßdämpfer im Körper versagen

Birgit Suchomel erlitt vor fünf Jahren einen kleinen Bandscheibenvorfall, der rasch und gut behandelt wurde.
Birgit Suchomel erlitt vor fünf Jahren einen kleinen Bandscheibenvorfall, der rasch und gut behandelt wurde. (c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Schwer heben, viel sitzen, zu wenig bewegen. Ursachen für einen Bandscheibenvorfall gibt es viele. Was man dagegen tun kann.

Es geschah ganz plötzlich und unvorbereitet. Beim Ausziehen der Jogginghose holte sich Birgit Suchomel einen Bandscheibenvorfall. „Ich war damals erst 29 Jahre alt“, erzählt die Wienerin, „es war zwei Tage nach Weihnachten. Ich kam mittags vom Laufen zurück und war dabei, die Jogginghose auszuziehen. Plötzlich spürte ich einen stechenden Schmerz und hörte ein Schnalzen im Rücken. Abends konnte ich nicht mehr aufrecht gehen.“ Suchomel, Instruktorin bei Kieser-Training, kannte sich einigermaßen mit (Sport-)Verletzungen aus. Sie wusste zwar nicht, was ihr fehlte, jedoch, was zu tun war. „Ich nahm Schmerzmittel, Muskelrelaxantien und setzte mich in die Infrarotkabine. Es hat null geholfen.“

Am nächsten Tag ließ sich Birgit Suchomel von ihrem Freund zum Arzt bringen. „Die Autofahrt war eine Tortur, ich habe geweint. Aber nicht nur vor Schmerzen, die sich bis ins linke Knie zogen, ich hatte auch wahnsinnige Angst, dass ich etwas ganz Furchtbares habe, das ewig bleibt, das nie wieder ganz gut wird.“ Der konsultierte Arzt – Dr. Sascha Sajer – stellte sofort die richtige Diagnose: ein kleiner Bandscheibenvorfall. Sajer, Facharzt für physikalische Medizin und Rehabilitation, sagt: „Am häufigsten ereignen sich Bandscheibenvorfälle im Alter von 25 bis 35 Jahren und dann wieder von 50 bis 55.“ Den Grund ortet der Mediziner unter anderem in der Tatsache, dass man mit etwa 25 Jahren aufhört, sich regelmäßig zu bewegen, „und mit 50 beginnen die degenerativen Veränderungen, die zu Bandscheibenvorfällen führen.“ Später sind derlei Ereignisse eher selten, weil die Bandscheiben meist schon so ausgetrocknet sind.

Stoßdämpfer im Körper. Wodurch wird ein Bandscheibenvorfall ausgelöst, und was passiert dabei eigentlich konkret? Bandscheiben liegen wie Stoßdämpfer zwischen den einzelnen Wirbelkörpern, sie bestehen aus einem Bindegewebsring und einem weichen Kern. Auf diesen Gallertkern kann ein so hoher Druck entstehen, dass er sich vorwölbt, man spricht dann von Protosion. Gallertmasse kann austreten und Nervenwurzeln einengen. „Bei einem Durchbruch spricht man von einem Prolaps. Er kann im Rahmen des normalen Alterungsprozesses passieren. Aber auch sitzende Tätigkeiten, also beispielsweise tägliche stundenlange Computerarbeit, stellen als dauernde Fehlbelastung einen Risikofaktor dar“, erklärt Heribert Salfinger, Orthopäde am orthopädischen Spital Wien-Speising. Auch ein Hebetrauma (also falsch und zu viel heben) und plötzliche unkontrollierte Bewegungen können einen Bandscheibenvorfall verursachen.

Tritt der Vorfall in der Halswirbelsäule auf, tut der Nacken weh, der Schmerz strahlt häufig in die Arme aus. Bei einem Prolaps in der Lendenwirbelsäule kommt es zu akutem Kreuzschmerz und Ausstrahlungsschmerz in ein oder beide Beine. Weitere Symptome können sein: Ameisenlaufen, Kribbeln, Taubheitsgefühl. „Recht typisch bei einem Bandscheibenvorfall ist der akut einschießende Schmerz im Versorgungsgebiet des bedrängten Nervs“, sagt Salfinger. „Der Schmerz kann vernichtend sein. Betroffene können sich nicht mehr richtig bücken, die Beweglichkeit ist stark eingeschränkt.“

„Ich bin kaum noch in den ersten Stock zu meinem Arzt gekommen“, erinnert sich Birgit Suchomel. „Dr. Sajer hat mir eine Schmerzinfusion verabreicht, und dann habe ich es auf sein Anraten einen Tag lang mit Medikamenten probiert. Als das aber nichts geholfen hat, bin ich ins Spital.“ Eine Magnetresonanz-Untersuchung bestätigte Sajers Erstdiagnose: ein kleiner Bandscheibenvorfall in der Lendenwirbelsäule mit Ausstrahlung ins linke Bein. Intravenöse Schmerztherapie und Physiotherapie halfen der sportlichen Frau bald. „Nach rund einer Woche war ich wieder zu Hause. Ich habe auch getaped, Shiatsu und Osteopathie waren ebenso hilfreich.“ Nach zwei Monaten begann Suchomel wieder mit ihrem Training, von einer Operation war nie die Rede gewesen.

„Operationen sind nur in den seltensten Fällen notwendig, bei mehr als 80 Prozent aller Betroffenen heilt ein Bandscheibenvorfall innerhalb von sechs Wochen spontan und von selbst“, betont Martin Marianowicz, einer der führenden Wirbelsäulenspezialisten Deutschlands. Operationen sind nur bei schweren neurologischen Ausfällen, länger währenden Lähmungserscheinungen und Darmlähmung sinnvoll. Es werde viel zu schnell zum Messer gegriffen, kritisiert er. In Deutschland etwa seien Bandscheibenoperationen 2,5-mal häufiger als in Frankreich, sechsmal häufiger als in England und achtmal häufiger als in Italien. „In Österreich ist das ähnlich. Jeder zweite Operierte muss innerhalb eines halben Jahres wieder in Therapie.“

Nicht zu lang schonen. Die konservative Therapie eines Bandscheibenvorfalls hängt immer auch mit der Schmerzintensität zusammen. Sinnvoll sind schmerzstillende und entzündungshemmende Mittel, Physiotherapie, manuelle Medizin. Orthopäde Salfinger: „Der großzügige Einsatz von adäquaten Schmerzmitteln gleich zu Beginn eines Bandscheibenvorfalls kann häufig zur Vermeidung einer Operation beitragen.“ Marianowicz rät bei leichteren Fällen auch zu Akupunktur und homöopathischen Tropfen. Sajer: „Körperliche Schonung sollte nur so lang wie unbedingt erforderlich eingehalten werden. Bei zu langer Schonung ist eine lange Patientenkarriere voraussehbar.“

Ins Gericht zieht Marianowicz mit Ärztekollegen, die nur auf bildgebende Verfahren bauen, aus Röntgen- oder CT-Bildern dürfe man nie Rückschlüsse auf Schmerzen ziehen. Birgit Suchomel hatte Glück mit den Ärzten und erhielt die richtige Therapie. Sie war relativ bald wieder fit und sportelt heute ohne Probleme wieder zwei- bis dreimal in der Woche. „Wäre ich bei meinem Bandscheibenvorfall untrainiert gewesen, hätte die Erholungsphase sicher viel länger gedauert.

VIER FRAGEN

Sind Bandscheibenvorfälle häufiger als früher?
Es werden mehr Bandscheibenvorfälle diagnostiziert. Das liegt an der besseren Technik, aber auch an der steigenden Immobilität der Bevölkerung.

Werden die Patienten immer jünger?
Konkrete Zahlen gibt es nicht, aber immer mehr junge Menschen leiden heute unter Rückenbeschwerden. Bei einer aktuellen Studie in München wurden 900 Gymnasiasten hinsichtlich Kraft und Koordination untersucht. Bei jedem Zweiten war das Risiko für eine Wirbelsäulenerkrankung erhöht.

Hilft Akupunktur?
Bei leichten Fällen hilft Akupunktur oft gut, sagt der deutsche Rückenspezialist Martin Marianowicz.

Kann man einem Bandscheibenvorfall vorbeugen?
Ja, bis zu einem gewissen Grad. Am besten eignet sich dazu regelmäßige Bewegung. Allerdings sollte extreme Belastung vermieden werden, gut sind also Radfahren, Schwimmen, Wandern (alles besser als Joggen). Eine bandscheibenfreundliche Ernährung gibt es nicht, ausreichend Flüssigkeit tut ihnen aber gut, sie hält sie prall und elastisch. Weniger gut ist der häufige Konsum von fettem Fleisch (dies stört die Aufnahme von Kalzium), fette Seefische werden empfohlen. Schädlich hingegen sind Rauchen, übermäßiger Genuss von Alkohol und phosphathaltigen Getränken.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.05.2016)

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