Doktor Digital – heilen mit Bits und Bytes?

Sebastian Gaede (Bild) gründete 2012 gemeinsam mit Julian Weddige und Philipp Legge das Startup smartpatient.
Sebastian Gaede (Bild) gründete 2012 gemeinsam mit Julian Weddige und Philipp Legge das Startup smartpatient.Katharina Roßboth
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In Europa sterben jährlich an die 200.000 Menschen, weil sie vergessen, ihre Medikamente einzunehmen. Das Start-up "smartpatient" hat sich zur Aufgabe gemacht, solche Versäumnisse zu verhindern.

Noch findet sich der Begriff „digitale Medizin“ in keinem wissenschaftlichen Lehrbuch. Und trotzdem scheint er allgegenwärtig: Programmierbare E-Pillen senden den Ärzten Daten aus dem Magen ihrer Patienten, Online-Coaches bieten digitale Sitzungen zur Depressionsbewältigung an. Apps sammeln Informationen über Pollenflug, Feinstaub und Ozonwerte, um Asthmatiker vor Anfällen zu bewahren, während PC-Spiele die Rehabilitation beschleunigen sollen.

„Das ist kein Hype mit Verfallsdatum, das ist erst der Anfang“, ist sich Sebastian Gaede sicher. Denn, „viele Menschen verstehen nicht, warum sie sich in fast jedem Lebensbereich von Smartphone und Internetdiensten helfen lassen können nur bei ihrer Gesundheit noch nicht“, sagt der Geschäftsführer von smartpatient. Das Start-up vertreibt seit 2012 die App „My Therapy“ für Android und iOS, die Patienten daran erinnert, ihre Medikamente einzunehmen, Symptome abfragt und Messwerte wie Blutzucker oder Gewicht abfragt. Per Klick lässt sich der als „Tagebuch“ gestaltete Befund an den Hausarzt übermitteln oder können Angehörige über Therapiefortschritte informiert werden.

Grund der Innovation war eine Diskussion über das Thema Therapietreue („Adhärenz“). „Wir konnten die Faktenlage kaum glauben“, erinnert sich Gaede: „40 Prozent der Bevölkerung leiden an einer oder mehreren chronischen Krankheiten. Laut WHO nehmen diese Patienten 50 Prozent der verordneten Medikamente nicht oder nicht richtig ein. Alleine in Europa sterben deswegen jedes Jahr 200.000 Menschen früher als nötig.“ Ähnlich lautet der Befund des Pharmaherstellers Merck Inc. Er ging zuletzt von 125.000 Herz-Kreislauf-Patienten pro Jahr aus, die in den USA sterben, weil sie ihre Therapie nicht wie vorgeschrieben umsetzten.

Wenn Tabletten übrig bleiben

Bei Gaede sorgte der Blick ins familiäre Umfeld für weitere Ernüchterung. „Alle sagen, dass sie ihre Medikamente richtig nehmen, aber bei vielen sind am Ende des Monats noch jede Menge Tabletten in der Packung übrig“, so Gaede. „Wir haben das Smartphone als große Chance gesehen, hier etwas zu verändern und so Millionen Menschen zu helfen.“ In anderen Worten: Medizin 2.0.

Dahinter verbirgt sich ein Zusammenspiel zwischen Mensch und Maschine: Der Verbraucher ist nicht mehr nur Konsument, sondern wird durch seine Nutzung zum integralen Bestandteil von Online-Diensten. „Digitale Daten können als solche natürlich nicht heilen“, so Gaede, ihre Aufbereitung aber bessere Entscheidungen herbeiführen und mittelbar den Therapieerfolg erhöhen.
„Dass Bits und Bytes Krankheiten kurieren können, klingt nur im ersten Moment anmaßend“, meint er und verweist auf den Umstand, dass in Deutschland jährlich geschätzt zwischen 25.000 und 58.000 Menschen an Wechselwirkungen zwischen Arzneimitteln sterben.

„Eigentlich nicht überraschend, denn die Ärzte und Apotheker haben meist keine Ahnung, was ein Patient neben den von ihnen selbst verordneten oder verabreichten Medikamenten einnimmt“, sagt Gaede – und fordert eine digitale Patientenakte nach österreichischem Vorbild ein. Die E-Card sei aber nur Teil der Lösung: „Unsere sozialstaatlichen Gesundheitssysteme fördern eine Vollkasko-Mentalität“, kritisiert er. Die umfassende Gesundheitsversorgung des Sozialstaates will zwar auch er nicht missen, doch sollte der Patient zur Eigenverantwortung ermutigt werden. „Dabei können digitale Unterstützungsangebote helfen.“

„Zeit für mich“ einplanen

Um die Ärzte davon zu überzeugen, braucht es wohl noch Fingerspitzengefühl: Laut Hani Eskandar von der Internationalen Fernmeldeunion, sehen sich viele Ärzte die vom Patienten selbst erhobenen Daten nicht an. „Verständlich“, findet Gaede, „ihnen obliegt ja die Sorgfaltspflicht und sie müssen sich selbst ein Bild machen“. Aber: „Einen schnellen Überblick liefert unsere App jedenfalls.“

Laut den deutschen Behörden ist „MyTherapy“ derzeit kein zertifizierungspflichtiges Medizinprodukt. Die App sei eben weder diagnostisch noch therapeutisch, so Gaede, sondern „vermittelt dem Patienten das Gefühl, alles für seine Gesundheit zu tun, ohne daran denken zu müssen“. Daher erinnert sie auf Wunsch auch ans Joggen, Einkaufen, an „Zeit für mich“ – oder Geschlechtsverkehr. Was klingt wie eine Spielerei, ist übrigens sehr gefragt. Gaede dazu: „Die Option ,Zeit für mich' ist eine unserer Top-Aktivitäten, welche Schlüsse auch immer man daraus ziehen mag.“

>>> Zum Alpbach-Ressort

>>> Zur Android-App

>>> Zur iOS-App

>>> MyTherapy-Webseite

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