Calisthenics: Tanzen mit dem eigenen Körpergewicht

Die Brüder Simon (l.) und Markus Selikovsky in ihrem neuen Studio in der Krafftgasse in Wien. Fitnesstrainer Xaver König (r.) verstärkt das Team.
Die Brüder Simon (l.) und Markus Selikovsky in ihrem neuen Studio in der Krafftgasse in Wien. Fitnesstrainer Xaver König (r.) verstärkt das Team.(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Das Training mit dem eigenen Körper als Hantel fördert Kraft, Geschmeidigkeit und Koordination, kräftigt auch vernachlässigte, schlappe Leiber recht schnell und macht nicht zuletzt Spaß.

Stärke, Beweglichkeit und Ausdauer sind die drei Tugenden, die einen gut trainierten Körper ausmachen, und ein solcher ist unweigerlich schön anzuschauen. Recht plakativ führen das zum Beispiel jene Leute vor, die regelmäßig einen – scheinbar – neuen Sport mit dem Namen Calisthenics betreiben. Meist sind es junge Männer, doch auch Frauen ziehen gerade nach. Immer sind sie ziemlich muskulös, aber keineswegs so aufgepumpt wie klassische Bodybuilder. Sie verfügen vielmehr über die anmutige Geschmeidigkeit von Gymnastinnen und sind trotzdem stark wie olympische Ringturner – genau diese Kombination macht einerseits die Faszination und andererseits den Unterschied zum Bodybuilding aus. Das Übungsprogramm, das hinter Calisthenics steckt, ist so alt wie die beiden griechischen Vokabel, aus denen sich der anglisierte Name zusammensetzt: Kalos bedeutet schön, Sthenos ist die Kraft, und beide führen, wenn man lang genug geübt hat, einen geschmeidigen Tanz mit dem eigenen Körpergewicht auf.

Parks als Trainingsgelände. Der Trendsport stammt aus den USA, genauer gesagt aus den ärmeren Gegenden New Yorks, wo sich kaum jemand ein Fitnessstudio oder gar einen Personal Trainer leisten kann. Die Stadt selbst wurde daher von Bewegungsbegeisterten zum Trainingsgelände erklärt, vor allem die Parks, wo in den USA traditionell Reckstangen und diverse Geschicklichkeitsparcours aufgebaut sind. Trainiert wird mittels Überwindung der Schwerkraft, die verwendeten Gewichte sind der Körper selbst, die Übungen setzen sich aus jenen elementaren und letztlich simplen Grundformen zusammen, mit denen bereits vor über 2000 Jahren Soldaten und andere Kämpfer der Antike ihre Leiber stählten.

Da wäre einmal der Klimmzug in all seinen anstrengenden, den gesamten Oberkörper und natürlich die Arme trainierenden Varianten. Auch Liegestütz, Kniebeugen, Ausfallschritte, Bauchpressen, Sit-ups und dergleichen gehören zum Grundrepertoire des Calisthenics. Wer all das lang genug geübt, genügend Kraft, Beweglichkeit und Körperkontrolle aufgebaut hat und das Pflichtprogramm wie ein Schlittschuhläufer seine Figuren perfekt beherrscht, ist bereit für die Kür.

Die kann einem schon beim Zuschauen den Atem rauben. Eine der größten Herausforderungen stellt etwa eine Figur namens Human Flag dar: Während eine senkrechte Stange gehalten wird, bringt man den Körper in die Waagrechte und scheint damit der Gravitationskraft zu spotten. Noch ein echter Hingucker ist die Planche: Hier berühren nur die Hände den Boden, die ausgestreckten Arme halten den Körper darüber in der Waagrechten. Das erfordert einerseits extrem viel Kraft, andererseits perfekte Koordination – und auf die kommt es mindestens ebenso an wie auf Kraft und Beweglichkeit.

Im Gegensatz zu Calisthenics zielt etwa reines Bodybuilding, wie der Name bereits verrät, auf die Gestaltung des Körpers und auf die perfekte Optik ab. Doch das ist nicht genug. Langgediente Bodybuilder bezahlen ihre Muskelberge nicht selten mit Steifigkeit und mit dem Verlust der Gabe, die eigenen Schuhbänder binden zu können. „Die Maschinen trainieren den Muskel in einer unnatürlichen Position“, sagt dazu der regierende österreichische Calisthenics-Staatsmeister, Achim Gölles, „und die vielen wichtigen stabilisierenden Muskeln werden vernachlässigt.“ Das freie Trainieren mit Gewichten hingegen mache Sinn.

Calisthenics baut also Muskeln auf, um sie gezielt zu verwenden, was eine völlig andere Herangehensweise darstellt und eben jene pantherhafte Geschmeidigkeit und Körperbeherrschung zum Resultat hat, die wir alle gern hätten. Selbst ein simples Anfängerprogramm, angeleitet von Leuten, die sich auskennen, kräftigt auch vernachlässigte, schlappe Leiber, egal, welchen Alters, schnell. Gölles, der selbst erst vor vier Jahren mit dem Training begonnen hat und damals gerade drei Klimmzüge schaffte: „Wir haben alle nicht als Übermenschen angefangen, sondern in kleinen Schritten aufgebaut, das ist ein linearer Prozess, und über jeden kleinen Schritt freut man sich.“ Die meisten von uns sind es jedoch überhaupt nicht mehr gewohnt, mit dem eigenen Körpergewicht Umgang zu pflegen und lustvoll herumzuturnen. Wir gehören einer Gesellschaft an, die körperliche Anstrengung nach Möglichkeit auslagert. Wir lassen Rolltreppen, Aufzüge und rollende Gefährte die Muskelarbeit tun, sitzen zu viel und bewegen uns zu wenig. Wir verlieren dabei Körperspannung, bekommen Rückenschmerzen und andere Wehwehchen und ärgern uns über Fettpölster.


Unbeweglichkeit muss nicht sein. „Würde jeder von uns zumindest einen Tag pro Woche ganz ohne Möbel einfach auf dem Boden leben“, sagt der amerikanische Bewegungsprofi und Yin-Yoga-Meister Josh Summers, „brauchte niemand Dehnübungen zu machen, und alle wichtigen Muskelketten würden gestärkt.“ „Kinder können sich noch toll bewegen“, meint auch Simon Selikovsky, der gemeinsam mit seinem Bruder Markus gerade das erste Calisthenics-Studio in Wien eröffnet hat, „aber wir leben in einer Zeit, in der es als selbstverständlich hingenommen wird, dass man sich im Alter nur noch mit einem Rollator fortbewegt.“

Wohl wahr! Man stelle sich beispielsweise eine Nationalrats- oder Aufsichtsratssitzung ganz ohne Sitzmöbel vor. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein beträchtlicher Teil der auf dem Boden sitzenden Parlamentarier und Manager, egal, welchen Geschlechts, nach der Sitzung nur mit Mühe wieder auf die Beine krabbeln würde, ist ziemlich hoch. Die Unbeweglichkeit und Unfähigkeit, den eigenen Körper als wunderbares Instrument zu begreifen, muss nicht sein, wenn man sich durch regelmäßige Übung in Schuss hält. Und es muss ja nicht jeder gleich zur Meisterschaft bringen. „Nur anfangen muss man halt“, sagt Gölles. Das gelte durchaus auch für ältere Semester: „Mich begeistern die Grenzenlosigkeit der Möglichkeiten und der Gedanke, dass man immer und überall trainieren kann, unabhängig von Zeit, Ort und Geld.“

„Man kommt ohne Kraft auf die Welt und muss jede Bewegung üben, jeden Muskel aufbauen“, sagt Selikovsky, „und dann beginnen wir zu sitzen und verlieren alles wieder.“ Der spielerische Umgang mit dem eigenen Gewicht könnte uns jedoch ein Leben lang begleiten. Kraft, Beweglichkeit, motorische Kontrolle, Gleichgewichtsgefühl – all das will immer wieder gepflegt werden, und selbst die einfachen Grundübungen des Calisthenics reichen dafür locker bis ins hohe Alter aus. ?

Calisthenics-Training in Wien:

„Jeder, der einen Körper hat, ist willkommen“, lautet die Devise des Calisthenics-Studios von Simon und Markus Selikovsky, das eben in der Krafftgasse (Wien 2, www.krafftgasse.at.) eröffnet hat. Ergänzend zu den Kraftübungen gibt es Yin-Yoga für die Dehnung. Die Grundidee, so Simon Selikovsky, sei es, Einsteigern wieder Spaß an der Bewegung zu vermitteln, sie dabei nicht zu überfordern, doch die Leute gleichzeitig zu ermächtigen, sich auch daheim, im Park oder wo auch immer zu bewegen. Für Fortgeschrittene gibt es die obligaten Klimmzugstangen, Seile, Ringe und ein paar wenige andere Geräte.

Orte für das Freiluft-Training: Auch in Wien gibt es auf der Donauinsel und an der Rossauer Lände Treffpunkte für Calisthenics-Training, und ein österreichischer Verband befindet sich gerade in Gründung. Weitere Infos auch hier: https://wswcf.org

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.02.2017)

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