Anonyme Alkoholiker: Leben in Etappen

Anonyme Alkoholiker Leben Etappen
Anonyme Alkoholiker Leben Etappen(c) Www.BilderBox.com
  • Drucken

Sie haben die "Hölle" hinter sich – und dennoch ringen sie auch heute um jeden einzelnen Tag: Alexander und Eduard sind Anonyme Alkoholiker. Ein Leben in Etappen: Jeweils 24 Stunden am Stück.

Woran erkennt man Anonyme Alkoholiker? Gar nicht so einfach, wenn man vor einem Lokal auf zwei von ihnen wartet. Aber selbst wenn man gar kein genaues Bild hat – so wie Alexander und Eduard stellt man sie sich wohl kaum vor. Die verbliebenen Haare ordentlich, das gestreifte Hemd frisch gebügelt, die Sprache höflich und gepflegt. Und vor allem: eindeutig nüchtern.

Dabei haben Alexander und Eduard (Namen von der Redaktion geändert) beachtliche Trinkerkarrieren hinter sich. Eduard, Jahrgang 1933, hat 30 Jahre mit Alkohol gelebt. Sie waren „die Hölle auf Erden“. Alles begann mit einem Wodkarausch beim Einmarsch der Roten Armee. Die Russen tranken Wodka aus Krügeln, und Eduard, gerade zwölf, wurde mitverpflegt. Schon damals litt er unter dem Verhältnis zu seiner Mutter – arbeitssüchtig sei sie gewesen, dominant; die Beziehung zu ihrem Sohn war schwer gestört. Und er merkte: Mit einem Vierterl oder zwei war alles ein bisschen weniger schlimm. Irgendwann waren acht oder zwölf normal.

Sein Leben, sagt er, verdankt er einem Artikel in einer Zeitschrift – und jenem Anonymen Alkoholiker Christian, um den es darin ging. „Ein Bekannter hat diesen Christian in Graz angerufen, und eines Tages stand er vor meiner Tür“, erzählt Eduard, umfasst seinen Cappuccino und schaut drein, als könnte er es heute noch nicht glauben. Am 3. Oktober 1983 besuchten sie gemeinsam das erste Treffen.


Leben in Etappen. Seither lebt Eduard sein Leben in Etappen: jeweils 24 Stunden am Stück. Ein Leben lang nüchtern bleiben klingt unmöglich. 24 Stunden, das geht. Drei- bis viermal pro Woche besucht Eduard ein Treffen der Anonymen Alkoholiker, immer noch. Er hat eine Stammgruppe und ein paar andere, die Auswahl ist groß: Allein in Wien finden täglich mehrere Meetings statt, insgesamt gibt es rund 45 Gruppen in der Bundeshauptstadt. Er hat Aufgaben übernommen, sperrt auf, kocht Kaffee oder macht Dienst am Telefon.

Eineinhalb Stunden dauert so ein Meeting. Jeder darf zu Wort kommen, erzählen, was ihn belastet. Oft geht es um Beziehungsende, um Jobverlust. Meist gibt es auch ein Thema, etwa einen Teil des berühmten Zwölf-Schritte-Programms, das auf dem Weg in ein nüchternes Leben helfen soll. „Denn das Problem“, sagt Eduard, „liegt nicht im Alkohol.“ Es sei in der Seele zu finden.

In einigen der Schritte geht es auch um Gott, oder zumindest eine höhere Macht, der man sich anvertraut. Denn spirituell sind die Anonymen Alkoholiker, auch wenn es sich bei ihnen auf keinen Fall um eine religiöse Organisation handle, wie deren Wiener Sprecher Hans Lehpamer versichert. Genauso wenig wie eine politische. Man will unabhängig sein, die Mieten werden durch freiwillige Spenden der Mitglieder finanziert. Mitgebracht, erzählt Eduard, hätten die Idee der Anonymen Alkoholiker die amerikanischen Soldaten; 1960 wurde in Wien die erste Gruppe gegründet. Die Selbsthilfegruppe feiert heuer somit ihr 50-jähriges Bestehen in Österreich – und ihr 75-jähriges weltweit.

Als Alexander zur Gemeinschaft stieß, gab es in Wien gerade einmal zwei Gruppen, das war 1977. Zu dieser Zeit verbrachte er seine Freizeit schon seit Jahren im Wirtshaus. Versoff das Einkaufsgeld. Ging am Freitag die Zeitung holen, war erst am Montag wieder da.

Geboren 1945, war Alexander als einsames Kind aufgewachsen, als ein trauriges, gehemmtes „Schlüsselkind“. Mit 17 entdeckte er mit einem Freund den Alkohol, der holte ihn aus seinem Elend, machte mutig, färbte die Welt bunt. Das ging gut bis 1970 – als er im Theater die erste Panikattacke bekam. Seine Karriere begann zu holpern. Es hieß: „Er ist gescheit, aber er trinkt.“ 1976 wurde er mit einem Delirium ins Spital, später in die Entzugsklinik nach Kalksburg gebracht. Er schämte sich, begann zu verzweifeln, dachte daran, sich umzubringen. Dann, auch bei ihm: ein Artikel. „Da stand ein Wort, das mich berührte: Kapitulation.“ Im Sommer 1977 wählte er, völlig besoffen, die Nummer der Anonymen Alkoholiker.


Rückfall und Delirium. Anfangs lief es gut, doch er hatte falsche Erwartungen. „Ich dachte, die hätten den Trick gefunden, wie man nur drei, vier Bier trinken kann.“ Es folgten: Rückfall, Delirium, „die Hölle“ – auch er verwendet dieses Wort. Bis er sich eines Tages hinter einem Glas Rotwein an einen Satz der Anonymen Alkoholiker erinnerte: „Lass das erste Glas stehen.“ Er ließ es stehen, es steht bis heute. Bis heute auch ist er dreimal pro Woche bei einem Meeting. Weil er sich weiter verändern, weiter genesen will. Die Sucht, die bleibe. „Aber man lernt, mit ihr umzugehen.“

Ein wenig passen die beiden Männer auch gegenseitig auf sich auf. Alexander ist Eduards Sponsor: ein erfahrenes Mitglied, ein Mensch, den man anrufen kann, wenn der Suchtdruck zu groß wird und man glaubt, dass man es nicht schaffen kann. Mit den Jahren ist zwischen den beiden eine tiefe Freundschaft entstanden. Natürlich ist Freundschaft möglich – bei aller schützenden Anonymität. Sonst kennt man sich nur beim Vornamen, alle eint der gleiche Wunsch. Oft ist die Lage dramatisch, geht es um Leben und Tod. Und doch, sagt Alexander, es gehe auch fröhlich zu.

Er sei heute ein starker, zufriedener Alkoholiker, konstatiert Eduard, der seit 27 Jahren keinen Tropfen angerührt hat. „Alkohol bedingt tausend Todesursachen, aber ich bin noch einmal davongekommen.“ Alexander, der Unsichere, wird demnächst 65, ist offen und selbstsicher geworden, strahlt vor Lebenslust. Trotzdem, er ist sich sicher: Würde er eines Tages wieder zum Glas greifen, er würde seinem Leben ein Ende setzen. Noch einmal, sagt er, würde er das nicht durchmachen wollen. Doch so weit wird es nicht kommen, er hat sein Leben im Griff. Jeden einzelnen Tag neu.

Die Anonymen Alkoholiker (AA) wurden 1935 in Ohio von „zwei hoffnungslosen Trinkern“, dem Börsenmakler Bill und dem Arzt Dr. Bob, gegründet. 1960 formierte sich die erste österreichische Gruppe. Mittlerweile gibt es in rund 150 Ländern etwa zwei Millionen „Mitglieder“ – also Menschen, die sich zugehörig fühlen. In Österreich sind es rund 150 Gruppen. Von 1. bis 4. Juli feiern die Anonymen Alkoholiker bei einem Welttreffen in San Antonio, Texas, ihr 75-jähriges Bestehen.

TIPP

Der Leitfaden der AA basiert auf einem Zwölf-Schritte-Programm, an das sich heute auch viele andere Suchtselbsthilfegruppen halten. Info: www.anonyme-alkoholiker.at

„... und die Tore der Hölle öffneten sich“ Erich Maximilian Zimmermann, ein Betroffener, beschreibt in 60 Gedichten den Weg aus der Alkoholsucht. Verlag Novum pro, 147 Seiten; 15,90 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.06.2010)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.