Ein Grimme-Preis für eine Raute und neun Buchstaben

Aus einigen Meldungen auf Twitter wurde eine Bewegung: Wie der #aufschrei zum globalen Medienphänomen wurde.

„Der Arzt, der meinen Po tätschelte, nachdem ich wegen eines Selbstmordversuchs im Krankenhaus lag.“ Es war der 24.Jänner 2013, als Nicole von Horst diese Zeilen auf Twitter absetzte. Der Tweet der Studentin aus Hildesheim war eine Reaktion auf einen Text im Netz, in dem eine Frau über ihre Erfahrungen mit Alltagssexismus in Berlin schreibt. Und von Horsts Tweet war nur eine von mehreren Reaktionen darauf. Und doch war er so etwas wie die Initialzündung zu einer Debatte, die innerhalb weniger Stunden ganz Deutschland erfassen sollte.

Mitverantwortlich dafür waren eine Raute und neun Buchstaben. Jener Hashtag nämlich, unter dem die Debatte in der Nacht auf den 25.Jänner kanalisiert wurde: #aufschrei. Erfunden wurde er von Anne Wizorek: Die Berliner Bloggerin, die von Horst damals noch gar nicht persönlich kannte, schaute kurz vor dem Schlafengehen noch ins Internet, stieß auf den Eintrag und machte einen entscheidenden Vorschlag: „wir sollten diese erfahrungen unter einem hashtag sammeln. ich schlage #aufschrei vor.“

Einen offiziellen Aufruf, sich an der Diskussion zu beteiligen, eigene Erlebnisse mit Sexismus beizusteuern, gab es nie. Den brauchte es auch nicht. Denn das Bedürfnis unzähliger Frauen, ihre Erfahrungen mitzuteilen, bahnte sich selbst seinen Weg ins Netz. Innerhalb weniger Stunden setzten sie tausende #aufschrei-Tweets ab, schilderten zum Teil intime Details von Diskriminierungserfahrungen. 57.000 Tweets waren es, die innerhalb von zwei Tagen gepostet wurden. Über Taxifahrer, die „für ein Küsschen“ Rabatt geben wollten. Über Mathelehrer, die sagen, dass man ein Beispiel nicht verstehen muss – weil man ja ohnehin irgendwann nur mehr Mutter sein werde. Über Vorbeischlängelnde, die in der Enge ganz nebenbei die Brust begrapschen. Es sind unzählige Erlebnisse, die aus den Frauen hervorbrechen.


Auch Männer schreien auf. Und es folgen Reaktionen von Frauen, die ganz ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Reaktionen von Frauen, die berichten, wie sehr es sie befreit, diese Dinge endlich rauszulassen. Aber auch Reaktionen von Männern, die ein Phänomen entdeckten, das sie so noch nicht kannten. Denen vielleicht sogar plötzlich bewusst wurde, dass womöglich auch sie schon einmal Anlass für einen #aufschrei gewesen sein könnten. Und natürlich lockte die Debatte auch zahlreiche Kritiker hervor, die von Hysterie schrieben – und all den aufschreienden Frauen sinngemäß unterstellten, dass sie einfach wieder mal wieder guten Sex bräuchten.

Es dauerte nicht lange, und der #aufschrei fand seinen Weg aus dem Internet und wurde von so ziemlich allen Medien im deutschsprachigen Raum großflächig aufgegriffen. Die gesellschaftliche Debatte über Alltagssexismus hatte den Mainstream erreicht. Ende Juni wurde der Hashtag schließlich sogar mit dem Grimme Online Award 2013 ausgezeichnet. Und auch, wenn die Diskussion bald wieder abflaute – das Thema Alltagssexismus ist vielen bewusster geworden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.12.2013)

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