YouNow: Liveübertragung aus dem Kinderzimmer

(c) Daniel Breuss
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Die Grenzen der Privatheit haben sich dank Internet immer weiter verschoben. Mit YouNow lassen Kinder und Jugendliche andere ganz nah an sich heran. Live und ungeschnitten.

Oh, ich habe Kekse“, sagt das Mädchen vor der Webcam. Es nimmt die Kopfhörer ab, greift zur Seite, holt eine Packung Oreos und steckt sich ein Keks in den Mund. „Oh, jetzt hab ich Durst.“ So weit, so unspektakulär. Und doch sehen dem Teenager gerade mehr als zehn Leute dabei zu, wie es gerade in seinem Kinderzimmer sitzt und nichts besonderes macht. Tausende Teenager sitzen in diesem Moment genauso vor ihren Webcams und noch viel mehr Menschen sehen ihnen dabei zu.

Die Internetplattform YouNow bietet die Möglichkeit, andere live am eigenen Leben teilhaben zu lassen, sie als Gäste ins eigene Zimmer zu holen. Dabei können sie nicht nur zuschauen, sondern per Text auch Kommentare schicken oder Fragen stellen. In den USA bereits ein weit verbreitetes Phänomen, setzt die Plattform nun auch in Deutschland und Österreich zur Landung an.

Talk-Radio mit neuen Mitteln

Folgt man der alten Binsenweisheit, dass das Gras auf der anderen Seite immer viel grüner ist, lässt das für das eigene Leben nicht allzu viel Gutes vermuten. Denn der Blick auf das Leben der anderen zeigt vor allem eines: Banalität. Bewegte Bildausschnitte aus dem Leben eines Teenagers. Erzählungen, wie sie sonst im Freundeskreis die Runde machen. Bei vielen auch Stottern oder verlegene Gesten. Konsequent weitergedacht ist es nicht viel anders als Talk-Radio mit neuen Mitteln. Auch hier erzählen Menschen, die man nicht kennt aus ihrem Leben, das so durchschnittlich ist wie viele andere auch. Nur, dass kein Moderator einen allzu langweiligen oder peinlichen Redefreudigen abwürgt. Und dass die Vorstellung live in Bild und Ton aus dem eigenen Zimmer übertragen wird.

Begonnen hat das 2011 gestartete YouNow als Plattform, auf der bekannte YouTuber (siehe Artikel rechts) Liveshows für ihre Anhänger veranstalten können. Nach und nach kamen dann auch die ganz normalen Jugendlichen auf die Idee, sich live vor der Webcam zu präsentieren. Einige davon, die ihre Talente zeigen wollen, etwa vor der Kamera rappen oder tanzen. Andere wiederum, die scheinbar gelangweilt auf dem Sofa liegen und Fragen der Zuschauer beantworten.

Es ist wie ein Zusammensitzen mit Freunden – mit dem Unterschied, dass bei diesem Format eine Person im Mittelpunkt steht und sich das Gespräch nur um sie dreht. Das mag auch die Motivation sein, warum so viele, vor allem junge Menschen, ihre Zimmer und damit ihren privatesten Bereich für alle öffnen. Es ist eine Form von Anerkennung, die in wohlwollenden Kommentaren und in „Likes“, wie man sie auch von Facebook kennt, gemessen wird. Auch können erfolgreiche Nutzer in höhere Levels aufsteigen – und damit neue Funktionen der Plattform nützen. Die Zahl der Fans und zustimmender Postings als Gradmesser der eigenen Attraktivität.

Performative Ökonomie

Es ist das, was Philipp Ikrath vom Institut für Jugendkulturforschung eine „performative Ökonomie“ nennt – dass es vor allem darum geht, sich ständig selbst darstellen zu müssen. Dass weniger wichtig ist, was man tut, sondern wie man es darstellt. Das betrifft nicht nur Jugendliche, sondern ist auch bei Erwachsenen zunehmend verbreitet. Dementsprechend posten auch Menschen weit jenseits der Adoleszenz ihr Essen auf Instagram oder präsentieren Strandfotos von sich auf Facebook. Das neue an Live-Plattformen wie YouNow ist, dass eine zeitliche Barriere wegfällt – es fehlt die Möglichkeit zu überlegen, ob man etwas tatsächlich vom eigenen Zimmer in die digitale Welt hinausbläst. Es geht auch darum, sich ungefiltert und spontan zu präsentieren.

Die Kombination aus der Suche nach Anerkennung durch andere User und dem Fehlen jeglicher zeitlicher Barrieren hat in den vergangenen Wochen bei Eltern und Experten zu einem besorgten Aufschrei geführt – unter anderem warnte auch das deutsche Familienministerium. Dass sich nämlich so mancher Jugendliche im Buhlen um Popularität zu fragwürdigen Handlungen hinreißen lässt. Und dass umgekehrt Menschen mit pädophilen Neigungen genau das ausnützen. Zwar sind Nacktheit und sexuell provozierende Handlungen auf der Plattform nicht gestattet, doch lässt sich das bei einem Angebot in Echtzeit und mit tausenden Kanälen kaum effektiv überprüfen.

Und tatsächlich finden sich Beispiele auf der Plattform. Von scheinbar harmlosen Bitten, die Füße herzuzeigen bis zur expliziten Aufforderung, doch einmal ein bisschen nackte Haut zu präsentieren. Die Reaktionen darauf sind vielfältig. Die einen übergehen derartige Wortmeldungen. Die anderen parieren sie. Und manche kokettieren auch mit der Vorstellung – so wie das Pärchen, das den Zusehern immer wieder verspricht, dass das Mädchen das T-Shirt hochziehen wird, sobald es eine gewisse Zahl von Likes gibt. Die steigen dann auch sprunghaft an – zum Gaudium der beiden, die nicht daran denken, tatsächlich allzu viel nackte Haut zu zeigen.

Ende der Anonymität

Die Darsteller vor den Webcams sind in einer privilegierten Position. Sie geben vor, was sie preisgeben wollen. Sie können mit den Zusehern spielen. Und sie können auch jederzeit den Chat beenden. Problematisch könnte es nur dann werden, wenn sie sich aus ihrer digitalen Anonymität herauswagen, wenn sie etwa ihre Telefonnummern oder ihre Adresse verraten. Doch im Grunde wissen die meisten der Jugendlichen, wie das Spiel funktioniert. Und verhalten sich auch entsprechend. Es ist eher die Elterngeneration, die nicht durchschaut, was sich hier abspielt – und die dementsprechende Sorgen hat.

Für junge Menschen sind Plattformen wie diese ganz normale Kanäle, über die sie kommunizieren. Die laufen, während sie mit Freunden per WhatsApp chatten und Fotos auf Instagram stellen. Und die heute zum Leben so dazugehören, wie etwa früher ein Festnetztelefon. Mit einem kleinen Unterschied – die Halbwertszeit in der digitalen Welt ist kurz. Und YouNow könnte schon bald seine Faszination einbüßen. Spätestens dann nämlich, wenn auch die Elterngeneration damit anfängt, Liveübertragungen aus dem Wohnzimmer zu starten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.03.2015)

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