Elia Bragagna: "Nicht auf lebenslängliche Treue angelegt"

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Beziehungsverträge statt Illusionen: Das fordert die Ärztin und Sexualtherapeutin Elia Bragagna.

Die Medien sind derzeit voll von den unkontrollierten Sexualtrieben mächtiger Männer. Gibt es da einen besonderen Zusammenhang?

Elia Bragagna: Diese Männer sind jeden Tag bis spät in die Nacht mit Entscheidungen beschäftigt, sie tragen viel Verantwortung. Diese Anspannung wird oft über Sex abgebaut. Solche Männer können zum Teil gar keine wirklich funktionierende durchschnittliche Bindung eingehen, wie jemand, der mit seinem Partner eine halbwegs normale Kontaktpflege betreiben kann. Parallel dazu wollen sie aber natürlich auch Sexualität ausleben, und zwar sehr oft eine unverbindliche, neben der Ehefrau.

Macht und Sexualität sind ja angeblich Teil derselben Energie.

Zum Teil ist das sicher biologisch. Es ist eine Triebfeder, die aber sehr wohl gesteuert werden kann. Je stabiler der Boden von Jugend auf ist, umso weniger stellt man später den Anspruch, unangefochten an der Spitze stehen zu müssen. Leider sind diese Positionen aber oft von Menschen besetzt, die in Wahrheit sehr ohnmächtig sind. Durch ihren Status sichern sie sich die Illusion, dass ihnen nichts mehr geschehen kann. Und so benehmen sie sich dann auch oft.

Es gibt ja die Theorie, dass Leute, die Gesetze machen, glauben, für sie selbst gelten Regeln und Gesetze nicht. Und zwar auf keinem Gebiet.

Das Verlockende und Gefährliche ist, dass diesen Menschen viel Ehrfurcht und Unterwerfung entgegengebracht wird. Sie bekommen selten realistisches Feedback. Da braucht man wirklich eine ganz starke Persönlichkeitsstruktur, um den Bezug zur Wirklichkeit nicht zu verlieren. Die wissen oft auch nicht mehr, wo die Grenzen sind. Da gibt es viel Narrenfreiheit. Aber natürlich ist nicht jeder so.

Wir haben insgesamt hohe Scheidungsraten, oft wegen Untreue, bei Männern wie auch bei Frauen. Müssen wir völlig neue Parameter an eine Ehe anlegen?

Es ist einfach so, dass das menschliche Wesen nicht auf lebenslängliche Treue angelegt ist. Bei vielen kommt eben der Wille dazu, treu zu bleiben. Man entscheidet, dass einem die Beziehung mehr wert ist. Für mich geht es mehr um Beziehungsverträge als darum, Illusionen aufrechtzuerhalten. Wenn man merkt, man verliebt sich in jemand anderen – und das kann jedem passieren –, muss man sich auch wirklich an den Beziehungsvertrag halten und das mitteilen. Das erfordert reflektiertes Handeln. Und wäre wünschenswert. Aber, ganz ehrlich, das können die wenigsten.

Wieso ist es so schwierig umzudenken?

Wir haben eine irrsinnige Sehnsucht nach Sicherheit. Ich fände es nicht übel, wenn sich ein Großteil der Frauen der Realität stellte, dass man sich in einer Beziehung nicht auf dem ehelichen Schwur ausruhen kann. Es wäre besser, die Möglichkeit zu akzeptieren, dass man verlassen werden kann.

Sie sagen jetzt aber nicht, dass die Frauen schuld sind.

Ganz und gar nicht. Aber zu ihrer eigenen Sicherheit wäre es für Frauen sehr wichtig, sich der Gefahr bewusst zu sein, dass sie mit den Kindern überbleiben könnten. Die Frage ist: Wie baut sich eine Frau so gut, sicher und stabil auf, dass sie sich dennoch für die Kinder entscheiden kann und die Beziehung anders gestaltet? Leider übersehen wir gern, dass wir uns verändern. Wir neigen dazu, in der Anfangsphase einer Beziehung hängen zu bleiben.

Elia Bragagna

Elia Bragagna
geboren am 16. März 1956 in Vigolo Vattaro (Italien)

Ärztin
für Allgemeinmedizin und Psychosomatik, Psychotherapeutin und Sexualtherapeutin

Dezember 2002
Eröffnung der Sexualambulanz im Wilhelminenspital

Autorin
von „Weiblich, sinnlich, lustvoll. Die Sexualität der Frau“ (mit Rainer Prohaska), Ueberreuter-Verlag

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.05.2011)


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