Atelier 10: Kunst statt "Mitleids-Getue"

Atelier Kunst statt MitleidsGetue
Atelier Kunst statt MitleidsGetue(c) Die Presse (Clemens Fabry)
  • Drucken

Im neuen Atelier 10 der Caritas arbeiten hochbegabte Künstler mit Behinderung. Die alte Ankerbrot-Fabrik wächst zum größten Kulturareal jenseits des Zentrums.

Hoch konzentriert sitzt Michaela Polacek über ihrem Bild, zeichnet minutiös mit winzigen Bleistiftstrichen. Manchmal sitzt sie bis zu zwei, drei Monaten an einem großen Gemälde, fünf Tage die Woche, sieben, acht Stunden pro Tag. „Ich habe halt sonst keine Interessen“, sagt die 40-Jährige, wendet ihren Kopf scheu ab. Sie wirkt jugendlich, erzählt unbekümmert von Fratzen, Dämonen, der Schweinepest und der Arche Noah, als sie ihr aktuelles Werk erklärt. Lässt sich nicht beeindrucken von den Besuchern, Michael Landau, dem Direktor der Caritas Wien, Sabine Haag, der Direktorin des Kunsthistorischen Museums, oder Claudia Schmied, der Ministerin für Unterricht, Kunst und Kultur, die an diesem Nachmittag in ihrem Atelier zu Gast sind. Die Besucher sind es wohl.

Seit zehn Jahren, sagt Michaela Polacek, zeichne sie schon. Zuvor im offenen Atelier in Gugging, seit wenigen Wochen hat sie einen neuen Arbeitsplatz: Das Atelier 10 der Caritas in einem Loft der alten Ankerbrot-Fabrik in Favoriten. Das Atelier 10 soll eine Lücke schließen. Eine professionelle künstlerische Einrichtung, vergleichbar mit einem akademischen Atelier, für hochbegabte Menschen mit Behinderung oder einer Krankheit.

Ziel sei es, die Leistungsfähigkeit der Menschen aus sozialen Randgruppen unter Beweis zu stellen. „Wir wollen sie über ihre Begabungen definieren“, sagt Landau. Professionelle Rahmenbedingungen statt „Mitleids-Getue“. „Es geht nicht darum, dass es ,lieb' ist, was diese Menschen schaffen, sondern es ist Kunst.“ Aktuell bietet das Atelier Platz für 15 bis 18 Künstler. Einige haben ihren fixen, unbefristeten Arbeitsplatz, andere machen in dem Atelier ein temporäres Praktikum. „Wir sind ein Jahr lang durch Einrichtungen, zum Beispiel Wohngemeinschaften, gegangen, und haben nach Talenten gesucht, die Betreuer gefragt und in alle Ecken geschaut“, erzählt Florian Reese, der Leiter des Ateliers.

Galerie statt Mistkübel. Er hat zuvor das offene Atelier im Art/Brut Center am Gelände der Psychiatrie Gugging geleitet, dort hat er Künstler kennengelernt und mitgebracht, wie eben Michaela Polacek. Kunst, so Reese, habe in vielen Betreuungseinrichtungen wenig Platz. Oft landen Zeichnungen im Mistkübel. „Wir konnten vieles retten. Wir werden auch ein Archiv aufbauen und die Arbeiten zumindest digital speichern.“ Zum Beispiel die Werke jenes Künstlers im Atelier 10, der, ähnlich der Übermalungen Arnulf Rainers, großflächig mit schwarzer Ölkreide malt. Oder jene von Ernst Geisfuß, einem vollbärtigen, älteren Mann, der nach Motiven aus Boulevardzeitungen Buntstiftzeichnungen anfertigt, die an Holzschnitte erinnern. „Achse Faymann-Hollande“ steht über einem, ein anderes, so erklärt der Maler, zeige Arnold Schwarzenegger.


Keine Therapie, aber Unterstützung. Etwa ein Drittel der Künstler, die ins Atelier 10 kommen, lebt in Einrichtungen der Caritas oder anderer Organisationen. Die anderen wohnen selbstständig, werden nur teilweise betreut. Voraussetzung, um ins Atelier 10 kommen zu können, sei, dass sie aus sozialen Randbereichen stammen. Dass sie wegen intellektueller Defizite, psychischer Krankheiten oder sozialer Probleme geringere Chancen haben, sich selbstständig in der Kunstszene zu behaupten und zu präsentieren.

Im Atelier geht es ausdrücklich nicht um therapeutische oder pädagogische Ziele. Vielmehr solle es eine freie Plattform sein, sagt Reese. Die Arbeitsmaterialien stehen wie das Atelier kostenfrei zur Verfügung, während der Öffnungszeiten kommen und gehen die Künstler nach eigenem Ermessen. Direkt an das Atelier, einer großen, hellen Halle mit Séparées für jeden Einzelnen, ist eine Galerie angeschlossen. Ab dem Herbst, nach der offiziellen Eröffnung des Ateliers am 19. September, werden die Werke dort auch verkauft.

„Eine Einrichtung wie diese gab es in Österreich bisher noch nicht“, sagt Caritas-Direktor Landau. Anders als andere Kreativgruppen und Werkstätten für Menschen mit Behinderung sei das Atelier an keine Wohn- oder Betreuungseinrichtung gekoppelt.


Kunst im Arbeiterbezirk. Einzigartig ist auch das Areal. So fügt sich das Atelier 10 in das wohl am schnellsten wachsende Kunst- und Kulturzentrum Wiens ein. Im Süden der Stadt, mitten im Arbeiterbezirk Favoriten, entsteht derzeit das wichtigste Kunstareal Wiens jenseits der Innenstadt. Während im südlichen Teil des Industriegeländes noch Brot gebacken wird, hat die „Loft City GmbH“ weite Teile des Backsteingeländes, das nur teilweise unter Denkmalschutz steht, vor dem Abriss bewahrt und siedelt Kreative in der „Anker“, wie die alte Fabrik nun genannt wird, an: Die private Musik- und Medienakademie „Die Pop“, die Galerie OstLicht oder eine Retromöbel-Filiale von Lichterloh sind schon da. Bereits seit 2009 betreibt Ernst Hilger in der früheren Expedithalle, in der schon 1910 täglich Pferdefuhrwerke mit Brot beladen wurden, eine „Brot-Kunsthalle“. Mittlerweile sei der Großteil der Lofts verkauft, heißt es, zu 90 Prozent an Kreative.

Der größte Eigentümer aber ist die Caritas Wien, 6000 der 26.000 Quadratmeter der alten Fabrik werden künftig für deren Sozialprojekte genutzt: Neben dem Atelier 10 wird es ab dem Frühjahr 2013 ein weiteres künstlerisches Angebot, ein „Community Art Center“ des Vereins Superar (ein Projekt des Wiener Konzerthauses, der Wiener Sängerknaben und der Caritas) geben, dazu kommen, ebenfalls 2013, eine Berufsschule, ein Lerncafé und ein Gastronomieprojekt für Langzeitarbeitslose.

Vorbild Brunnenpassage. „Es zeichnen sich spannende Kooperationen ab, etwa mit der Pop-Akademie oder der Brot-Kunsthalle“, sagt Landau. „Dieser Ort soll ein lebendiger Platz im Bezirk werden, es bietet sich an, ihn nach außen zu öffnen, ähnlich der Brunnenpassage in Ottakring.“ So denke man derzeit etwa über Community Cooking und andere Möglichkeiten, die Favoritner einzubinden, nach. Schließlich wurden diese zuvor nicht gerade mit kulturellen Angeboten verwöhnt.

Kunst am Rand

Im neuen Atelier 10 der Wiener Caritas finden bis zu 20 hochbegabte Künstler aus gesellschaftlichen Randgruppen einen professionellen Arbeitsplatz samt angeschlossener Galerie.

Die alte Anker-Brotfabrik mitten im Arbeiterbezirk Favoriten wächst auch dank dieses Ateliers zum wichtigsten Kulturzentrum Wiens abseits der Innenstadt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.07.2012)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.