Verkehrt herum: Wenn Kinder ihre Eltern pflegen

Verkehrt herum Wenn Kinder
Verkehrt herum Wenn Kinder(c) Erwin Wodicka - wodicka@aon.at (Erwin Wodicka)
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Sie wechseln Windeln, verabreichen Medikamente, waschen Rücken, Füße, Haare und sind da, wenn es Probleme gibt. Rund 25.000 Kinder in Österreich pflegen ihre Familienangehörigen.

Für die meisten jungen Erwachsenen sieht der Alltag ungefähr so aus: Man steht auf, geht in die Schule oder zur Uni, lernt vermutlich ein bisschen, nachmittags trifft man Freunde im Café, geht ins Kino, das Wochenende feiert man am besten durch.

Die Realität der damals 22-jährigen Agnes Maierhofer sah ein wenig anders aus. Wenn sie von der Fachhochschule nach Hause kam, musste sie zuerst ihrer Oma helfen: sie ausziehen und in die Badewanne hieven, Rücken und Beine waschen, das Thrombosemittel spritzen, ihr gut zureden: „Es wird schon alles wieder gut.“ Ihre 19-jährige Schwester putzte derweil das Haus und sorgte dafür, dass genug Essen im Kühlschrank war. Abends war Agnes müde und fertig. „Manchmal wollte ich einfach nur schlafen“, sagt sie. Aber genau das durfte sie nicht. Sie musste aufpassen: Denn ihre Oma hatte sich mit 89 Jahren den Oberschenkelhals gebrochen.

Julian Brandt (Name geändert) erging es ähnlich. Der heute 24-Jährige musste seit seinem 15.Lebensjahr seinen Vater versorgen, der an den Folgen von Kinderlähmung und Parkinson litt. Brandt half seinem Vater beim Gehen, beim Waschen, brachte ihn aufs WC und gab ihm die richtigen Medikamente. Am Ende standen dennoch Schuldgefühle, weil er nicht immer für den Vater da sein wollte: „Ich habe einen Teil meiner Kindheit ausgelassen.“

In Österreich gibt es rund 440.000 Pflegebedürftige, von denen 80 Prozent daheim von Verwandten und mobilen Pflegediensten betreut werden. Schätzungen zufolge sind 22.000 bis 25.000 Kinder in die Pflegearbeit involviert. „Es passiert schleichend“, sagt Anneliese Gottwald von der Pflegedienstleitung der Johanniter. Kleine Kinder würden zuerst beim Einkaufen helfen, später leichte Pflegearbeiten übernehmen, dabei immer mehr Verantwortung tragen, bis sie schließlich Medikamente verabreichen, Verbände und schließlich sogar Windeln wechseln. „Gerade das überfordert viele“, sagt Gottwald.

Schuldgefühle und Sorgen. Auch Agnes ging zeitweise an ihre Grenzen, dabei war sie schon damals in der Ausbildung zur Krankenschwester, wusste also, was sie zu tun hatte. „Aber es ist etwas anderes, wenn man die eigenen Angehörigen pflegt“, sagt sie. Schwierig sei die psychische Belastung gewesen. „Ich hatte ständig das Gefühl, ich bin für sie verantwortlich.“ Selbst wenn sie am Abend weggehen wollte, konnte sie diese Sorgen nicht wegschieben. „Ich hatte Angst, dass etwas passieren könnte, wenn ich weg bin.“ Am Ende blieb sie deshalb immer zu Hause.

Mit der neuen, großteils durch Spenden finanzierten Website „Superhands“ wollen die Johanniter nun Kindern, aber auch jungen Erwachsenen helfen, mit solchen Problemen zurechtzukommen. Auf der Plattform sind Tipps und Tricks zum Thema Pflege zu finden. In Videos erklären Burschen und Mädchen wie Waschen, Pulsmessen oder das Wechseln von Betteinlagen richtig funktioniert.

Wieso denn erst jetzt? Dass die Plattform erst jetzt gegründet wurde, erklärt Gottwald mit dem Zeitgeist. „Ich bin seit 35 Jahren in der Pflege tätig und selbst erst vor drei bis vier Jahren darauf aufmerksam geworden.“ Sie glaubt, dass das Auseinanderbrechen von Familienverbänden mitunter ein Grund sei, warum das Thema an Relevanz gewinne. „Pflege ist ja teuer, also müssen die helfen, die da sind.“ Auf das Thema aufmerksam sei man durch die Johanniter Unfallhilfe geworden. „Da sehen wir, dass auch Kinder und junge Erwachsene ihre Eltern pflegen.“

Wie Agnes Maierhofer. Im Alter von 19 zog die junge Frau wegen der Ausbildung vom Waldviertel zu ihrer Großmutter nach Wien. Als sich ihre Oma, eine rüstige und aktive Frau, vor drei Jahren verletzte, war klar, dass ihre Enkelin ihr helfen würde. „Wenn man zusammenwohnt, dann muss man auch für den anderen da sein“, sagt sie. Als ihre Oma vor ein paar Wochen aufgrund eines eitrigen Fußes kaum gehen konnte, war Agnes wieder zur Stelle: Die junge Frau musste sie regelmäßig auf den Leibstuhl, eine Art Zimmerklo, führen und danach natürlich säubern.

Als Krankenschwester sitzt bei Agnes jeder Griff. Umso mehr aber imponiert es ihr, wenn ungeschulte Jugendliche so eine Arbeit leisten. „Wenn man das noch nie gemacht hat, ist das sehr unangenehm“, sagt sie. Hinzu käme, dass sie über Dinge wie Hygiene bestens Bescheid wisse. „Aber wer bringt Kindern bei, dass manche Hepatitis-Erkrankungen auch über Harn übertragen werden können?“, fragt sie.

Genau da setzt die „Superhands“-Plattform an. Wobei mit Informationsabenden und Vorträgen in Schulen das Thema auch in der Öffentlichkeit bekannter gemacht werden soll. „Uns geht es nicht darum, das Thema zu kriminalisieren. Wir wollen, dass hingeschaut wird. Familienverbände sollen so gestärkt werden“, sagt Gottwald.

Dieser Meinung ist auch Pflegewissenschaftler Martin Nagl-Cupal von der Universität Wien. „Es ist so schon schwierig genug, an diese Kinder heranzukommen, weil die Familien das verheimlichen. Es ist wichtig, ihnen zu sagen, dass sie nichts Verbotenes tun.“ Rein rechtlich gesehen gäbe es nämlich laut Nagl-Cupal kein Gesetz, das regelt, wie viele Pflegearbeiten ein Kind übernehmen darf.

Die zentrale Frage sei daher immer, wie viel einem Kind zugemutet werden kann. „Es gibt Kinder, die erleben das sehr positiv. Andere leiden darunter.“ Wenn ein Kind aber etwas nicht tun könne oder wolle, dann sei definitiv „eine Grenze überschritten“, sagt Nagl-Cupal. In einer groß angelegten Studie, die er im Auftrag des Sozialministeriums durchführt, ermittelt er jetzt die Anzahl der „pflegenden Kinder“ sowie die Langzeitauswirkung auf deren Entwicklung. Die Ergebnisse werden Anfang Jänner präsentiert.

Agnes Maierhofer hat indes etwas anderes bemerkt. Nämlich, dass es ihrer Großmutter oft unangenehm ist, so von ihr abhängig zu sein. „Sie sagt dann immer: ,Nein, jetzt mach ich euch so einen Ärger.‘“ Aber so groß sei der Ärger dann auch wieder nicht. Agnes Maierhofer ist froh, ihrer Oma helfen zu können. Daran soll sich auch in Zukunft nicht viel ändern. Auch wenn die Last nicht immer leicht zu tragen ist.

Pflegende Kinder

22.000 bis 25.000 Kinder pflegen in Österreich ihre Familienangehörigen. Die Zahl beläuft sich auf eine grobe Schätzung und ist an englische Studien angelehnt.

In Österreich will das Institut für Pflegewissenschaften der Universität Wien Klarheit schaffen und führt eine Studie durch. Die Ergebnisse werden im Jänner 2013 präsentiert.

www.superhands.atheißt die Plattform, auf der sich Kinder und Jugendliche über das Thema Pflege informieren können: mit Informationsvideos, Notfallnummern und einem Forum zum Austausch mit Betroffenen. Finanziert wird die Plattform durch private Spenden und Kooperationen, etwa mit der Diakonie Österreich und der Softwarefirma SAP.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.10.2012)

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