Juli Zeh: „Wir leben in einem Goldenen Zeitalter!“

(c) AP (MATTHIAS RIETSCHEL)
  • Drucken

Die Schriftstellerin hält nichts von Kulturpessimismus, glaubt nicht an Gott und freut sich über ihren kleinen Sohn. Wer sich empöre und das »System« hasse, müsste bereit sein, seinen Lebensstandard aufzugeben.

Wenn Sie für eine Legislaturperiode deutsche Kanzlerin wären, was würden Sie ändern?

Juli Zeh: Ich würde mich bemühen, die Bologna-Reform rückgängig zu machen, auch wenn ich dafür eher europäische Königin als deutsche Kanzlerin sein müsste. Diese Umstellung der Universitäten ist eine der schlimmsten politischen Katastrophen, die in Europa in den letzten Jahren angerichtet wurden. Gerade in Deutschland waren wir stolz auf unser Universitätssystem. Jetzt soll es nicht mehr um umfassende Bildung und Persönlichkeitsentwicklung gehen, sondern um materiell messbare Werte: die Uni als Trainingscamp für Karrieristen. Schrecklich.

Mit Ilija Trojanow haben Sie 2010 das Buch „Angriff auf die Freiheit“ über den Überwachungsstaat verfasst. Hat sich seither etwas verbessert beim Datenschutz?

Zumindest ist keine Verschlechterung eingetreten. Terrorismus wurde als Hauptthema abgelöst von der Finanz-und Eurokrise. Seither haben die Politiker in Deutschland aufgehört, ständig neue Sicherheitsgesetze durchzupeitschen. Es gibt auch einen Denkwandel.

Was sind denn Ihrer Meinung nach die wichtigsten Probleme unserer Zivilisation?

Vor 300 Jahren hat eine wichtige geistesgeschichtliche Entwicklung angefangen, die wir Aufklärung genannt haben und die noch nicht zu Ende ist. Wir haben vieles abgebaut, was uns als Zwang erschienen ist, Ideologien dekonstruiert, uns von der Religion emanzipiert. Wir haben in Teilen auch mit der patriarchalischen Familie aufgeräumt. Das war alles sehr gut. Inzwischen ist das meiste weg, was das Individuum einschränkt.

Klüger oder gar weiser sind die Menschen aber trotzdem nicht geworden.

Wir haben jedenfalls nicht gelernt, mit der Freiheit, die wir haben, richtig umzugehen. Sie macht den Leuten Angst, weil sie noch nicht wissen, wie sie sich orientieren sollen. Obwohl die europäisch-westlichen Demokratien heute in einer einzigartig komfortablen, ja luxuriösen Situation leben – verglichen mit früheren Phasen der Geschichte ist das ein Goldenes Zeitalter – ist das Sicherheitsbedürfnis stark angewachsen. Ein Paradoxon. Wir sind noch nicht ganz fähig, die Idee anzunehmen, dass der Mensch frei geboren ist und diese Freiheit nützen soll und kann.

Was halten Sie von den neuen Bürgerbewegungen, „Empört euch!“ und Co.?

Das sind sehr unterschiedliche Bestrebungen, die man nicht über einen Kamm scheren kann. Mit „Empört euch!“, dem Essay von Stéphane Hessel, hatte ich ein Problem: Ich finde es nicht zielführend, Revolte oder Empörung um der Empörung willen zu fordern. Es bringt nichts, ein System hassen zu wollen, von dem man selbst profitiert. Deshalb beobachte ich auch die Occupy-Bewegungen nachdenklich. Es ist ein bisschen bigott, wenn in Gesellschaften, die vom Wohlstand profitieren, auf wohlfeile Weise Kapitalismuskritik geübt wird. Wenn man radikale Forderungen stellt, müsste man bereit sein, seinen Lebensstandard aufzugeben und zu einer Art Selbstorganisation zurückkehren. Ich zweifle, ob die Leute das wirklich wollen.

Behauptet sich die geistige Welt, oder haben wir uns längst weitgehend dem Primat der Wirtschaft unterworfen?

In Wahrheit legen wir immer größeren Wert auf Kultur, Literatur, Kunst. Immer breitere Teile der Gesellschaft sind bildungsmäßig und intellektuell befähigt, an dieser Entwicklung teilzunehmen. Es wird gern gejammert, der Untergang des Kinos oder der Bücher ausgerufen. Ich sehe diesen Trend nicht. Es gibt immer mehr tolle Bücher, es wird viel gedruckt, aber auch viel gelesen, wenn wir bei der Literatur bleiben.

In Ihrem jüngsten Roman „Nullzeit“, einem Psychothriller, nehmen Sie auch den Kulturbetrieb aufs Korn: Ein Eiweißriegelhersteller schippert mit seinem tollen Schiff und Kulturpromis auf die Kanaren.

Ich wollte satirisch darauf reagieren, dass in den letzten Jahren politisches Engagement in der Kultur wieder schick geworden ist. Die Leute an Bord dieses Schiffes tragen ihre „Empört euch!“-Fahne vor sich her und glauben, wenn sie z. B. engagiertes Theater machen, ist das politisch wahnsinnig wichtig. Dabei sind sie innerhalb eines Subventionsbetriebes, werden alle bezahlt, von Mäzenen oder vom Staat. Das finde ich zum Lachen.

Im Wiener Kosmos-Theater wird eine szenische Fassung Ihres Krimis „Schilf“ gezeigt. Welche Erfahrungen haben Sie mit Theater?

Bei Romanen stelle ich die Umsetzung frei. Wenn ich ein Buch fertig habe, schicke ich es in die Welt. Es entwickelt ein Eigenleben. Wenn jemand den Roman liest, hat er schon ganz andere Ideen als ich. Oft ist es überraschend für den Autor zu hören, was die Leser gelesen haben. Das ist das Wunder an der Literatur. Anders ist es, wenn ich einen Text extra fürs Theater schreibe. Dann versuche ich bei der Uraufführung zu erklären, wie ich es mir auf der Bühne gedacht habe, und man sucht einen gemeinsamen Weg.

Recherchieren Sie für Ihre Bücher?

Manchmal gibt es ein Konzept. Bei „Nullzeit“ habe ich mir ein bisschen die Handlung überlegt und Notizen gemacht. Bei anderen Texten, z.B. bei „Spieltrieb“, schreibe ich drauflos und weiß am Anfang gar nichts. Recherchen mache ich fast immer erst hinterher. Wenn ich nicht sicher bin, denke ich mir aus, wie es sein könnte, und schaue nach, wenn der Text fertig ist. Es ist interessant, dass man mit dem, was man sich ausgedacht hat, oft ganz nah an der Realität dran ist. Die Intuition stimmt. Da freue ich mich immer sehr. Das ist wie ein Zaubertrick.

Woran arbeiten Sie momentan?

Ich spreche ungern über unfertige Projekte. Ich habe immer vieles gleichzeitig in Arbeit, und springe auch gern hin und her, wenn ich bei einer Sache nicht weiterkomme oder keine Lust mehr habe. Es macht Freude, zu etwas anderem zu wechseln. So vermeide ich auch Schreibkrisen.

Sie werden oft mit Patricia Highsmith oder Hitchcock verglichen. Mir scheint, dass das Unheimliche Moden und dem Wechsel der Zeiten unterliegt. Highsmith und Hitchcock sind toll, aber nicht mehr so gruselig wie vor 20 Jahren. Was ist da passiert?

Edgar Allen Poe oder Dostojewski wirken düster, gruselig, unheimlich und gar nicht alt auf mich. Ich glaube, dass Literatur eine längere Halbwertzeit hat als das Kino. Das Visuelle ist stark an Sehgewohnheiten geknüpft, und die ändern sich mit der Technik. Literatur braucht keine Technik, sie braucht nur Köpfe und Sprache, das ist das Famose.

Waren Poe und Dostojewski wichtig für Sie?

Früher schon. In den letzten Jahren habe ich mehr Gegenwartsliteratur gelesen, was daher kommt, dass ich jetzt selber veröffentliche und neugierig bin, was die Kollegen so machen. Vorher habe ich vor allem Autoren des 19.Jahrhunderts und der Jahrhundertwende gelesen. Übrigens bin ich ein großer Bewunderer der österreichischen Literatur. Musil war enorm wichtig für mich, aber auch Zeitgenossen wie Robert Menasse und Thomas Glavinic. Die österreichische Literatur ist phänomenal reichhaltig.

Gibt es ein utopisches Projekt? Einen Film drehen? Oder sonst ein Abenteuer, das Sie gern in Angriff nehmen würden?

Ich fühle mich in meinem Beruf und in meinem Leben sehr wohl und möchte nichts Grundlegendes ändern.

Da geht es Ihnen anders als Ihren Romanfiguren, die sich oft miserabel fühlen.

Leute, die sich wohlfühlen und mit denen alles in Ordnung ist, eignen sich schlecht als literarische Helden. Literatur sucht immer Randzonen, das Scheitern. Oder fragt danach, wozu der Mensch im Extremfall fähig ist.

Hat Ihr Sohn Ihr Leben verändert?

Seit er da ist, lebe ich noch mehr in der Gegenwart. Es ist unheimlich schön, mit ihm zusammen zu sein. Es ist alles genau richtig. Er geht los, entdeckt die Welt und reichert sich mit Erfahrungen an. Da will ich nur danebenstehen und ihm jede Minute zeigen, dass ich ihn liebe. Alles andere kann er gut alleine.

Waren Sie selbst ein glückliches Kind?

Ich hatte eine sehr glückliche Kindheit, die plötzlich mit einer sehr unglücklichen Pubertät endete. Das ist vermutlich der normale Verlauf. Ich habe sehr viele schöne Erinnerungen. Das ist etwas, von dem ich sehr hoffe, dass ich es meinem Sohn mitgeben kann. Kindheitserinnerungen sind so ein wichtiges Fundament fürs spätere Leben. Als Erwachsener hat man dann eine große Sicherheit und ein Selbstvertrauen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.11.2012)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.