Klaus Kinski und die Leiden des „Püppchens“

Klaus Kinski und Tochter Pola
Klaus Kinski und Tochter Poladpa/Wolfgang Langenstrassen
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In ihrem heute erscheinenden Buch „Kindermund“ schreibt Pola Kinski von sexuellem Missbrauch durch ihren Vater. Es ist eine Geschichte, die einen nicht kaltlassen kann.

Klaus Kinski wurde schon immer gern als Ungeheuer bezeichnet. Viele Fans meinten und meinen damit etwas in seiner Monstrosität Faszinierendes, ein anbetungswürdiges Naturereignis. Sie ziehen keine Grenze zwischen Kunst und Person, tätowieren sich Kinski-Köpfe auf die Arme und verwandeln ihre Zimmer oder PCs in Kinski-Schreine.

Mit der Lektüre von „Kindermund“, das seit heute im Buchhandel erhältlich ist, steht ein anderes Ungeheuer vor uns, ein Kinderschänder. Sie habe es satt gehabt zu erleben, wie ihr Vater zwei Jahrzehnte nach seinem Tod immer noch glorifiziert werde, sagt die Schauspielerin Pola Kinski. Was auch immer die 60-Jährige letztlich dazu gebracht hat, ihr Buch zu schreiben; was sie schreibt, klingt glaubwürdig: als autobiografischer Roman auf der Grundlage eines realen Missbrauchsschicksals.

Kalte Mutter, bewunderter „Babbo“

Die Leidensgeschichte der Ich-Erzählerin kann einen nicht kaltlassen. Ein junges Mädchen sehnt sich vergeblich nach der Zuwendung ihrer Mutter (Gislinde Kühlbeck, die nach der Trennung von Kinski in München eine neue Familie gründet und von ihrer Tochter als kalt und abweisend erlebt wird). Aber nur einer liebt sie, überschüttet sie mit Zärtlichkeiten und Geschenken, nennt sie sein „Püppchen“, und das ist der immer wieder unangemeldet in ihr Leben hereinstürmende, sie in feine Restaurants und Geschäfte entführende, bewunderte und ein bisschen gefürchtete „Babbo“.

Der Vater gibt dem kleinen Mädchen feuchte Küsse mit offenem Mund, schleckt ihre Hände ab. Sie ist neun, als er Pola im Hotel Vier Jahreszeiten in einem „Salon wie in einem Märchen“ auszieht, Oralsex an ihr praktiziert und sie beschwört, niemandem davon zu erzählen.

Später holt er sie zu sich nach Rom, wann es ihm passt, die Mutter lässt alles geschehen. Pola ist eine enge Münchner Kleinbürgerswohnung gewohnt, nun findet sie sich in einem Palast, mit Kinskis neuer Frau und der Tochter des Paares Nastja – Nastassja Kinski, die ihre Schwester als Schauspielerin in den Schatten stellen wird.

Pola erzählt, wie ihr Vater sie stundenlang durch die Geschäfte zerrt, ihr immer kürzere Röcke und Schlüpfer kauft, die sie zu Hause vor ihm anziehen muss; wie er sie stundenlang schminkt; und wie er sie nachts missbraucht. Und immer wieder die Schuldgefühle – des Opfers. Einmal wird sie geschickt, um Kondome zu kaufen, erst später wird ihr klar, dass sie sie für ihre eigene Vergewaltigung gekauft hat.

„Spießiges Deutschland!“

Bei der Lektüre dreht sich einem oft der Magen um, Hass steigt auf. Wenn Pola schreit: „Ich will nicht, es tut mir weh!“, schreit Kinski zurück: „Bist du blöd! Hier in Italien, überall auf der Welt ist es völlig normal! Nur in diesem spießigen Deutschland, in dem du lebst, zicken sie rum!“ Kinski war offenbar seiner Zeit voraus: Ein Jahrzehnt später, in den 1970er-Jahren, ließ die Fotografin Eva Ionesco Nacktfotos ihrer elfjährigen Tochter im „Playboy“ veröffentlichen, Cohn-Bendit beschrieb ein sexuelles Erlebnis mit einer Fünfjährigen, in der Mühl-Kommune wurden Kinder in die „freie Sexualität“ eingeweiht.

Bei einer seiner letzten Vergewaltigungen hat Kinski „die Fratze einer tausend Jahre alten Echse“. Irgendwann, da ist Pola bereits erwachsen, bricht es vor der Mutter und ihrem Stiefvater aus ihr heraus. Bestürztes Schweigen, nur die Mutter sagt: „Ich hab es mir ja schon immer gedacht. Du kamst jedes Mal so verstört aus Rom.“ Jahre später, als sie der Tochter am Telefon Kinskis Tod mitteilt, sagt sie trotzdem: „Ach, ich bin ihm nicht böse, er war schon ein toller Kopf!“

War das alles so? Polas Mutter Gislinde Kühlbeck lebt noch und hat sich bis jetzt nicht öffentlich dazu geäußert. Nastassja Kinski hat sich auf die Seite ihrer Schwester gestellt: Sie habe das Buch gelesen und sei stolz auf ihre Schwester.

Einmal erhält Polas Mutter im Buch einen Brief von Klaus Kinski aus Wien. Den Brief gibt es nicht. Pola hat aus mehreren Briefen Kinskis das für sie Passendste herausgesucht und mit Eigenem ergänzt, wie die im Buch „Vermächtnis“ von Kinski-Nachlassverwalter Peter Geyer veröffentlichten Dokumente zeigen. Eines von vielen Beispielen, die zeigen: „Kindermund“ muss als ein (ergreifender) autobiografischer Roman gelesen werden. Mit dieser Romanhaftigkeit ist die Tochter ihrem Vater näher, als ihr vielleicht lieb ist – ihr Buch erinnert stilistisch immer wieder erstaunlich an Kinskis eigene „Autobiografien“: „Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund“ hieß eine davon, in der Kinski Sex mit Minderjährigen eingestand – und mit seiner Tochter Nastassja, die damals wegen dieser Passagen vor Gericht zog.

Viele Fragen bleiben offen – die die Autorin vielleicht noch beantworten wird. Aber um sie im Internet von vornherein als Lügnerin abzustempeln, wie es seit ihrem drei Tage alten Interview im Magazin „Stern“ viele Kinski-Fans machen, braucht es viel Böswilligkeit. Natürlich bleibt das Unbehagen, dass sich Klaus Kinski nicht mehr verteidigen kann. Andererseits kann man einem Missbrauchsopfer nicht den Zeitpunkt seines Bekenntnisses vorschreiben.

Was seine Kunst anbelangt – sie wird durch den Missbrauchsvorwurf weder größer noch kleiner. Aber es wird künftig wohl weniger Menschen geben, die Kinskis Selbstinszenierungen auf den Leim gehen und nicht zugeben wollen: Er war ein schrecklicher Mensch.

Die Schauspielerin Pola Kinski sagt, sie habe es „sattgehabt“, wie ihr Vater glorifiziert werde – darum habe sie das Buch „Kindermund“
geschrieben
(Insel Verlag).
[Stefan Klüter, Insel Verlag]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.01.2013)

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