Psychotherapeut: Wenn die Couch plötzlich leer ist

Psychotherapeut Wenn Couch ploetzlich
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Dass ein Patient im Laufe einer Therapie stirbt, erleben viele Psychotherapeuten irgendwann einmal. Ob durch Suizid, Unfall oder Krankheit – der Verlust löst oft Selbstvorwürfe aus.

Wer Krebspatienten seelisch begleitet, muss mit allem rechnen, auch mit dem Schlimmsten. Das weiß Micheline Geldsetzer allzu gut, denn ein Schwerpunkt der Verhaltens- und Hypnotherapeutin ist die Psychoonkologie: Die 48-Jährige hilft Menschen, die an Krebs leiden oder gelitten haben, besser mit ihrer Krankheit, dem nahenden Tod oder mit der Angst vor einem neuen Tumor umzugehen – für beide Seiten eine schwere Arbeit.

Seit die Psychologin 1995 ihre Praxis in Regensburg eröffnet hat, sind etwa vierzig ihrer Patienten während der Therapie verstorben, wobei viele davon die letzte Zeit vor dem Tod ohne Kontakt zu ihr im Krankenhaus oder zu Hause verbracht haben. „Oft lese ich die Todesnachricht in der Zeitung. Dann ist das für mich erst einmal ein Schreck, auch wenn ich gewusst habe, dass die Patienten nicht mehr lange leben werden.“ Wie sehr ein Todesfall sie trifft, hängt davon ab, „wie lange ich den Betreffenden gekannt habe, wie gut die therapeutische Beziehung gewesen ist und ob wir das Todesthema zuvor bearbeitet haben oder nicht“. Hat der Patient sein bevorstehendes Sterben angenommen, kommt sie als Therapeutin „eher damit zurecht“.


Supervision für Therapeuten. Beim Verarbeiten der Trauer hilft sie sich, indem sie ihre Mitschrift aus den Therapiestunden noch einmal liest und sich die Gespräche mit dem verstorbenen Patienten „bewusst noch einmal vor Augen führt“. Wenn die engsten Angehörigen des Toten von der Therapie gewusst haben, schreibt sie auch eine Kondolenzkarte. Wenn jedoch etwas nach dem Tod eines Patienten besonders hilft, dann sind es offene Gespräche mit Fachkollegen. Bei Bedarf nimmt Geldsetzer eine Supervision in Anspruch, spricht also mit einem Fachmann über das, was in ihr aufgewühlt worden ist. Zudem steht sie vorsorglich im Kontakt mit drei anderen Therapeuten, mit denen sie sich beraten kann.

Die US-Psychologin Jennifer Veilleux von der Universität von Arkansas in Fayettville erlebte den überraschenden Tod eines ihrer Patienten kurz nach ihrem Studium. Der unglückliche Mike, wie sie ihn nennt, hatte mehrfach Suizidgedanken geäußert, erschien ihr jedoch nicht als akut selbstmordgefährdet. Acht Monate nach Beginn der Verhaltenstherapie starb der Endfünfziger überraschend an einem Herzinfarkt. Zuvor hatte er – wie schon öfter – kräftig Alkohol getrunken. Seine Frau fand ihn frühmorgens, nachdem sie ins gemeinsame Haus zurückgekehrt war.


Nicht das Beste gegeben? Veilleux wollte erst nicht glauben, dass ihr Patient tot war. Geschockt versuchte sie, mehr zu erfahren: Wie genau starb Mike? Hatte er gesundheitliche Probleme, die sie nicht kannte? War der Alkohol schuld am Herztod? Zusätzlich zu einem Schwarm von Fragen, auf die sie keine Antworten fand, fühlte sie sich „erleichtert, dass ich mich mit Mike nicht länger abmühen müsste“. Vor allem wegen dieses Eingeständnisses überwältigten sie später Selbstvorwürfe: War sie eine schlechte Therapeutin? Hatte sie nicht ihr Bestes gegeben, weil Mike als Patient so anstrengend gewesen war?

Auf Einladung von Mikes Ehefrau – und durchaus mit professionellen Zweifeln – nahm sie an der Trauerfeier teil, „vor allem, weil ich es mir vorgeworfen hätte, es nicht getan zu haben“. Obendrein las sie Berichte von Berufskollegen über ähnliche Patiententoderfahrungen und beschäftigte sich gezielt mit Süchten und anderen schweren, seelischen Leiden. Deshalb ist sie heute wachsamer, wenn Klienten Selbstmordgedanken äußern.

Auch John O'Brien hat seit Jahren immer wieder mit Patienten zu tun, die an schweren Krankheiten leiden, bisweilen auch an unheilbaren. Der Psychologe arbeitet in Portland (US-Bundesstaat Maine) in einer Gemeinschaftspraxis von Psychiatern und Psychotherapeuten. Als Steve, ein krebskranker Patient, der jahrelang gegen sein Leiden angekämpft hatte, am Ende doch starb, nahm das O'Brien sehr mit – auch weil es ihn mit seiner eigenen Sterblichkeit konfrontierte. Noch zwei Tage vor seinem Tod suchte Steve ihn gemeinsam mit seiner Frau auf und teilte ihm verzweifelt mit, dass der Krebs erneut zurückgekehrt war. O'Brien musste sich zusammenreißen: „Sie waren in tiefer Trauer, und ich musste aufpassen, nicht selbst darin verloren zu gehen.“ Der Therapeut ahnte nicht, dass diese Therapiestunde die letzte mit Steve sein würde.

Zur Beerdigung ging O'Brien allerdings nicht, weil er einen der Trauergäste, der seinem Klienten sehr nahegestanden war, gut kannte. „Hätte ich an der Trauerfeier teilgenommen, wäre mein Grund dafür offensichtlich gewesen – und ich hatte das Gefühl, dass dies der Familie meines Patienten peinlich gewesen wäre.“ Also beschloss er, „die meinem Patienten zugesagte Diskretion auch hier zu schützen“. Trotzdem bedauerte er, dass er sich nicht formell von Steve hatte verabschieden können.


Psychotherapeuten sind Menschen. In solchen Fällen erscheint Achtsamkeit sich selbst gegenüber unabdingbar. Psychotherapeuten sind eben auch nur Menschen. Ihre Ressourcen sind begrenzt. Wer seine eigenen blinden Flecke und Anfälligkeiten nicht aufmerksam betrachte, drohe irgendwann auszubrennen und zynisch zu werden, findet John O'Brien. Damit wäre niemandem geholfen, auch nicht ihren Hilfe suchenden Patienten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.01.2013)

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