Fotos können uns glauben machen, dass wir in einem Ballon gereist sind oder einen Slime in den Lehrertisch gelegt haben. Es ist schockierend leicht, uns mit ihrer Hilfe Erinnerungen einzupflanzen.
Da hat es noch keine Farbe gegeben“, erklärte vor einiger Zeit ein Wiener Schüler seiner Lehrerin, warum er sich nicht für Geschichte interessiere. Er war überzeugt, dass die Welt an sich früher schwarzweiß war – oder besser langweilig farblos. Niemand hatte ihm offenbar davon erzählt, dass Fotos nicht immer so färbig waren wie heute.
Die meisten Menschen werden überzeugt sein, weit von solcher „Ignoranz“ entfernt zu sein. Dabei setzt unser Gehirn immer wieder alte Bilder mit dem gleich, was „wirklich“ passiert ist, ohne dass wir viel dagegen tun können. Wie erinnern wir uns an unsere Kindheit? Fotografien spielen eine große Rolle, ganze Autobiografien werden um sie herum gestrickt.
Getäuscht durch „Quellenamnesie“.Wie diese Bilder uns täuschen können, merkt man, wenn man ein Kindheitserlebnis zum Besten gibt und einem dann gesagt wird, man sei viel zu jung gewesen, um sich zu erinnern. Manche sind dann überzeugt, dass die Wissenschaftler, denen zufolge Erinnerungen frühestens ans Ende des 2. Lebensjahres vorhanden sein können, sich irren, oder dass sie selbst eine sensationelle Ausnahme sind. Meist wird einem aber irgendwann bewusst, dass man nur glaubt, sich an etwas zu erinnern, was man erzählt bekommen – oder auf Fotos gesehen hat.
Diese „Quellenamnesie“ bringt viele falsche Erinnerungen hervor. Sie ist so häufig, weil wir zwar Informationen im „semantischen“ Gedächtnis“ abspeichern, für die Erinnerung daran, wie wir sie aber bekommen haben, aber das „autobiografische“ Gedächtnis zuständig ist, das viel weniger und nur Bedeutsames speichert.
Ein unglaubliches Versprechen.Dass unsere Erinnerungen immer auch Erfindungen sind, wusste schon der große Sucher „nach der verlorenen Zeit“ Marcel Proust. Im Film „Die wiedergefundene Zeit“ von Raúl Ruiz sieht man ihn nicht zufällig zuallererst beim Betrachten alter Fotos. Die Fotografie versprach bei ihrer Erfindung für den Einzelnen Unglaubliches, nämlich Erlebtes endlich festhalten zu können, „so wie es wirklich war“. Wirklich? Welche Momente und Stimmungen der Kindheit fest- und nicht festgehalten werden, wer darauf zu sehen ist und wer nicht, formt und fälscht die Kindheitserinnerung. Wer seine alten Fotoalben durchsehe, gewinne den Eindruck, „dass wir unentwegt in Nordwales auf Urlaub waren und mein Vater uns nie begleitete“ (weil er immer hinter der Kamera war), schreibt der britische Autor Blake Morrison. Viele Menschen haben Erinnerungsbilder, bei denen sie sich von außen sehen – vielleicht auch deshalb, weil wir das Foto als Erinnerungsmedium so gewöhnt sind?
Das Ausmaß unserer Manipulierbarkeit zeigt sich, wenn Menschen in Experimenten mit gefälschten Fotos konfrontiert werden und daraufhin beginnen, sich in allen möglichen Details an angebliche Erlebnisse zu „erinnern“. Das tun sie selbst dann, wenn die Fotos sie nicht direkt bei diesem Erlebnis abbilden.
Psychologen haben in den vergangenen 20 Jahren eine Reihe schockierender Studien dazu gemacht. Man gab Versuchspersonen etwa Broschüren zu Disneyland mit Bugs Bunny darauf, ein Drittel gab dann an, sie wären dieser Figur im Disneyland begegnet (obwohl sie dort nicht vorkommt); wieder fast die Hälfte von diesen erinnerte sich sogar daran, von Bugs Bunny umarmt worden zu sein. Andere Forscher zeigten ihren Probanden ein Schwarz-Weiß-Foto, auf denen sie in einem Heißluftballon zu sehen waren. Es war eine Fotomontage, aber wieder „erinnerte“ sich jeder Dritte, nach einer Bedenkzeit zu Hause sogar jeder Zweite.
Der Streich mit dem Slime. Bekannt ist auch das Slime-Experiment. 45 Studenten wurden gefragt, ob sie sich an drei Ereignisse aus ihrer Schulzeit erinnern könnten. Zwei dieser Ereignisse waren real, das dritte erfunden, nämlich dass sie einen Slime, jene glitschige Schleimmasse des Spielzeugherstellers Mattel, in den Lehrertisch gelegt hätten. 27 Prozent glaubten sich nach Erzählungen davon zu erinnern; wurden ihnen zugleich auch Klassenfotos aus jener Zeit gezeigt, waren es dagegen 67 Prozent!
Sie erzählten auch noch präzise Details dieses „Erlebnisses“ und „erinnerten“ sich mindestens so lebhaft und genau an dieses wie an die zwei realen Ereignisse. Glaubt man erst einmal, etwas erlebt zu haben, unterscheidet sich die Art der Erinnerung offenbar nicht von jener an wirklich Erlebtes, und die Fantasie schmuggelt immer mehr Details dazu.
Wie oft sieht man sich in seinem Leben nicht echte oder mittlerweile digitale Fotoalben an! Auch in den Experimenten werden Erinnerungen desto erfolgreicher eingepflanzt, je häufiger Bilder gezeigt werden. Eine Studie zeigte Teilnehmern einen Stift und bat sie entweder sich vorzustellen, wie sie den Stift zerbrechen, oder es wirklich zu tun. Je öfter die Probanden, die es sich nur vorgestellt hatten, später Bilder eines zerbrochenen Stiftes zu sehen bekamen, desto mehr neigten sie zum Glauben, dass sie den Stift wirklich zerbrochen hätten.
All diese Studien demonstrieren drastisch, dass Fotos nie isolierte Erinnerungskonserven sind. Architektin Fantasie macht auch aus „echten“ Momentaufnahmen aus der Vergangenheit Bausteine für das Haus Erinnerung, das uns eine Identität geben soll.
Der erfundene Missbrauch. In manchen Bereichen kann dieses Zusammenspiel von „echtem“ Foto und Fantasie furchtbare Folgen haben. Lange Zeit arbeiteten Psychotherapeuten, wenn sie glaubten, dass ihre Patienten vielleicht in der Kindheit missbraucht wurden, u.a. mit Fotos männlicher Bezugspersonen, um eine möglicherweise verschüttete Erinnerung zutage zu fördern. Mittlerweile hat sich gezeigt, dass diese Konfrontation mit Fotos, kombiniert mit Suggestionen vonseiten des Therapeuten, falsche Erinnerungen hervorbringen kann.
Nicht, dass Fotos die „Hauptschuld“ an der Produktion falscher Erinnerungen hätten. Der berühmte Fall des Missbrauchstäters Paul Ingram etwa zeigt, wie auch wiederholte Erzählungen einen Täter an Sachen glauben lassen können, die er nie begangen hat. Entscheidend ist, wie viel Glaubwürdigkeit hinter den Suggestionen steht. Und Fotos haben in unserer Kultur nun einmal eine große Autorität. Ihre „Echtheit“ färbt auf Dinge ab, die mit ihnen verbunden werden.
Was wird sich ändern, wenn wir schon bald unsere Lebensgeschichte visuell fast restlos dokumentieren können (etwa mit am Körper befestigten Minikameras)? Werden wir, indem wir immer mehr Lücken schließen, die Vergangenheit endlich in Händen halten, „wie sie wirklich war“? Wohl kaum – allein schon, weil das fotografische Material immer manipulierbarer wird. Selbst wenn man es also für möglich hielte zu zeigen, wie etwas „wirklich“ war: Die Bilder der Vergangenheit werden es uns nie verraten.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.06.2013)