Hilferuf eines Vaters: "Mögen Sie junge Menschen?"

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Eine Tochter, die in der Schule leidet, die das Gefühl hat, dass ihre Lehrerin sie nicht mag – und auch die anderen Schüler nicht. Ein Brief an die Direktorin als Hilferuf eines Vaters.

Sehr geehrte Frau Direktorin,

anderntags habe ich mit meiner Tochter Mathematik geübt. Keine große Sache. Meine Tochter hat die Erklärungen der Lehrerin zu Prozentrechnungen nicht ganz nachvollziehen können. Also hat sie mich gebeten, den Stoff noch einmal mit ihr durchzuarbeiten. Ich hab mir das Übungsbuch angesehen, sie hat einen Block aus dem Rucksack hervorgekramt, drei Blätter abgerissen, an Ort und Stelle fallen lassen und sich an den Küchentisch gesetzt. Wir sind den Stoff durchgegangen, haben gemeinsam drei Beispiele gerechnet. Dann hat sie gemault, weil sie noch ein paar Beispiele allein rechnen sollte, weswegen wir uns auf einen Kompromiss geeinigt haben und sie versprochen hat, die restlichen Beispiele tags darauf zu rechnen. Dann war sie fertig, und wir sind ein Eis essen gegangen.

Später habe ich die drei abgerissenen Blätter aufgehoben. Auf dem ersten waren sehr schöne Skizzen von Augen. Ob eigens für den Zeichenunterricht oder aus Spaß an der Freude „nur so“ gemacht, kann ich nicht beurteilen. Macht auch nichts. Auf dem zweiten Blatt waren elf Sätze in unterschiedlichen Handschriften.


Klagen über die Lehrerin. Die meisten Sätze beginnen mit „Sie“ und werden fortgesetzt mit Klagen wie „schreit uns immer an“, „akzeptiert unsere Meinung nicht“, „kann nicht mit Kindern umgehen“. Auf dem dritten Blatt sind zehn Unterschriften. Zwei Schülerinnen haben mit „Anonym“ gezeichnet. Die Klagen –das erschließt sich aus dem Inhalt – betreffen das Verhalten ihrer Klassenvorständin Mag. M.

Die Klagen betreffen wie oben beschrieben ihr Verhalten, organisatorische Schwierigkeiten („Tauscht Klassenstunde u. Englisch“) und den Mangel an Verständnis für die Anliegen der Kinder („Sie macht keine Ausflüge mit uns“). Sie, Frau Direktorin, werden als erfahrene Schulleiterin und Pädagogin anführen können, dass es sich dabei eben um die alltäglichen Schwierigkeiten im Schulbetrieb handle. Manches sei nicht zu ändern (wie die Organisation von Ausflügen), manches für die Schüler eben nicht immer nachvollziehbar (wie der Tausch von Unterrichtsstunden).

Selbstverständlich werden Sie auch konzedieren, dass es nicht angeht, wenn Lehrer Schüler anschreien. Sie werden ankündigen, mit der Kollegin zu reden und auf sie einzuwirken. Möglicherweise werden Sie darauf hinweisen, dass der Beginn der Pubertät ein nicht ganz einfaches Alter sei – für alle Beteiligten. Und Sie werden schon recht haben.

Man kann über alles reden, werden Sie sagen. Also gut. Ich habe meine Termine bei der Klassenvorständin und bei Ihnen absolviert. Ich habe die Klassenvorständin erlebt, wie sie sich eine zweite, in der Sache nicht befasste Kollegin mitgenommen hat, damit sie in ihrer als Patzigkeit zum Ausdruck gebrachten Panik vor dem Gespräch nicht allein ist. Ich habe an einem Elternabend teilgenommen, der von dem unermüdlichen Elternsprecher unter immensen Schwierigkeiten organisiert erst sechs (!) Monate nach Schulbeginn abgehalten werden konnte, weil sich die Klassenvorständin erst darauf berief, dass ein Klassenabend nur alle zwei Jahre abzuhalten sei und dann lange keinen Termin finden konnte. Bei diesem Klassenabend drohte die Klassenvorständin den Raum sofort zu verlassen, sollte noch eine kritische Frage gestellt werden. Ihre Kollegen blickten betreten zur Seite.

Doch blenden wir mein Verhältnis, meine Schwierigkeiten mit Frau Mag. M. aus. Es geht hier nicht um mich. Ich bitte Sie aber, sich einen Moment lang zu überlegen, wie groß die Frustration dieser Schüler ist, dass sie sich die Mühe machen, sich hinzusetzen und diese Klagen gemeinsam zu verfassen, wie stark das Leid ist, dass sie sich gegenseitig dabei unterstützen, diese Frustration zum Ausdruck zu bringen, wie mächtig die Ohnmacht ist, wenn sie dann bemerken, dass sie damit doch nichts ausrichten können. Alles ist sinnvoller, als sich wegen einer Klassenvorständin solche Gedanken machen zu müssen. Wie gut könnte die Zeit genutzt werden! Etwa für unendlich ausdrucksstarke Skizzen von Augen.

Und sagen Sie mir bitte jetzt nicht, wie bedauerlich das sei, aber immerhin würden die Schüler bei der Auseinandersetzung mit Frau Mag. M. lernen, sich zu organisieren, ihre Anliegen auszudrücken und mit Widerständen umzugehen. Es ist dies die armseligste und feigste Aussage, die mir von Lehrern (auch Ihrer Schule) in der nun zwölfjährigen Schulkarriere meiner Kinder untergekommen ist.

Die Aussage ist perfide, weil sie Sympathie für die Schüler heuchelt. „Wir verstehen euch ja!“, scheinen diese Lehrer zu sagen, die sich selbst gern als „engagiert“ bezeichnen. Was sie nicht sagen ist: „Aber findet euch damit ab, so wie wir uns mit unfähigen Kollegen, desinteressierten Vorgesetzten, einer selbstbezogenen Personalvertretung und einem erstarrten Schulsystem abgefunden haben.“ Die Aussage ist der Versuch, eine Komplizenschaft im Versagen herzustellen, die Aufforderung zur Resignation, die Rechtfertigung der Kleinmut, die Verherrlichung der Fügsamkeit. Wie wirksam dieses Gift der Entmutigung wirkt, können Sie daran ermessen, dass zwei Schülerinnen mit „Anonym“ unterschrieben haben. Die beiden beginnen sich schon zu fügen.


Organisatorische Unzulänglichkeiten. Sie werden sich also den Satz der heuchlerischen Sympathie sparen und mit der in Ihrer Funktion zweifellos angebrachten Gelassenheit anmerken, immerhin sei ja das Schuljahr bald vorbei. Nach Notenschluss werde sich alles beruhigen, dann werde es auch Ausflüge geben, werde sich die Stimmung entspannen. Und dann kommen ja eh die großen Ferien. Ja eh. Und wissen Sie was? Ich würde Ihnen so unendlich gern zustimmen. Ich will mich als Vater nicht mit organisatorischen Unzulänglichkeiten herumschlagen (davon habe ich selbst genug auf Lager). Ich weiß bei Gott, wie unendlich nervig Jugendliche sind, die den Willkürlichkeiten der unausgegorenen Biochemie in ihrem Hirn ausgesetzt sind. Ich würde mir viel lieber diese wunderschönen Augen auf den Skizzenblättern meiner Tochter ansehen. Oder von mir aus Mathematik mit ihr üben.

Aber da ist noch dieser andere Satz, zufälligerweise in der Mitte des Blattes, eingerahmt von den anderen Klagen. Da steht: „Wir haben alle das Gefühl, dass sie uns gar nicht mag.“ Der Satz ist im Kontext des Schul- und Unterrichtssystems komplett belanglos. Er stellt bloß eine Behauptung auf, liefert keine Begründung, argumentiert rein emotional. Der Satz ist in dem Personalakt einer Lehrerin völlig unerheblich. Der Satz schadet keiner Karriere, weder jener der Lehrerin noch der Vorgesetzten, schon gar nicht der Person, die über ihren weiteren Berufsweg in der Schulbürokratie entscheidet. Er stammt von einer zwölfjährigen Schülerin.


Gift der Entmutigung. Sie ahnen, worauf ich hinauswill. Der Satz sagt alles. Er sagt alles über die Traurigkeit der Schüler und ihren Wunsch, gemocht zu werden. Er sagt alles über die Verzweiflung, die sie dazu gebracht hat, gemeinsam etwas zu tun, man kann auch sagen: solidarisch zu handeln. Er sagt alles über den Mangel, sich anders Gehör zu verschaffen. Er sagt alles darüber, wie die Lust am Lernen ausgetrieben, wie das Gift der Entmutigung eingeträufelt wird.

Über den Anlass hinaus sagt der Satz auch viel über die tatsächlichen oder vermeintlichen Schulreformen und das Beharrungsvermögen, mit dem nicht etwa die Reformen, sondern vorzugsweise gleich die Debatten darüber verzögert, verhindert oder desavouiert werden. Der Satz zieht auch die vielen löblichen Initiativen in Zweifel, mit denen Komponenten einer Wissensgesellschaft verfestigt werden sollen – in einem Land, das sich eh schon so schwer tut mit der Würdigung von Engagement, Individualität, Nonkonformismus, Risikobereitschaft und Kritikfähigkeit.

Und der Satz sagt etwas über das Elend der Klassenvorständin. Was muss es für ein Gefühl sein, täglich einer Gruppe von im Großen und Ganzen aufgeweckten, gescheiten, lernwilligen, jungen Menschen gegenüberzustehen und zu ahnen: Ich mag sie nicht, und deswegen mögen sie mich nicht. Was mache ich falsch? Bin ich hier richtig?

Und deswegen weiß ich, dass diese Frage am Anfang der Lehrerausbildung stehen sollte: „Haben Sie das Gefühl, dass Sie junge Menschen mögen.“ Ich würde ihn gern ergänzen um: „...und dass junge Menschen Sie mögen.“

Wer diesen Satz nicht bejahen kann, ehrlich und auf das Wohl dieser jungen Menschen bedacht und dann noch durch ein Propädeutikum bestätigt, sollte sich für eine andere Tätigkeit ausbilden lassen. Und wer den Beruf schon ausübt und ihn nicht bejahen kann, sollte sich nach echter, professioneller Hilfe oder letztlich einem anderen Beruf umsehen können. Ohne existenziellen Druck, aber mit diesem klaren Ziel.

Was ich mir also im Kern wünsche, ist dies: Meine Tochter möge ganze Skizzenbücher –gern gemeinsam mit anderen –mit diesen wunderbaren Augen vollzeichnen statt Klagen über ihre Klassenvorständin zu formulieren. Und von mir aus erkläre ich ihr dann auch, wie das mit den binomischen Formeln funktioniert.

Mit freundlichen Grüßen

Oliver Lehmann

Der Autor

Oliver Lehmann ist Wissenschaftsjournalist (www.oliverlehmann.at) und Sprecher von IST Austria.

Privat

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.06.2013)

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