Christiane F., 51, am Leben: Zoo ist keine Endstation

Christiane Felscherinow
Christiane Felscherinow(c) EPA (MARCEL METTELSIEFEN / DEUTSCHER)
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Als Kind vom Bahnhof Zoo wurde sie zum berühmtesten Junkie der Welt. Nun erzählt Christiane Felscherinow, wie intensiv, tragisch und verrückt ihr Leben weiterging. "Die Presse am Sonntag" traf sie in Berlin.

Es geht weiter, irgendwie geht es immer weiter.“ Sie sagt das heftig, hastig, herausfordernd. Dazu blitzt sie mit todmüden Augen, die es irgendwie schaffen, zugleich hellwach zu wirken. Es geht weiter: Bei jedem anderen wäre das eine banale Botschaft. Aber die Frau, die an diesem kühlen Herbstnachmittag auf einer Holzbank im Kiez Neukölln in ihrem Milchkaffee und ihren Erinnerungen rührt, setzt den Satz wie ein stolzes Siegel unter ihr beschädigtes Leben.

Christiane Felscherinow hat ihre Biografie erzählt, die Journalistin Sonja Vukovic sie aufgeschrieben, in wenigen Tagen kommt sie auf den Markt. Die Öffentlichkeit hat Felscherinow vor 30 Jahren aus den Augen verloren, nun soll sie alles erfahren, über kurze Trips und tiefe Abstürze. „Nehmt mich, wie ich bin“, fordert sie trotzig, „und zählt nicht meine Rückfälle.“ Sie freut sich „auf den Dialog mit Menschen“, über das, was sie erlitten und erstritten hat.

Es ist herrlich viel Stoff: Männer sonder Zahl, Seit an Seit mit den Großen aus Musik und Literatur, die Jahre an griechischen Stränden, die Zeit im Frauengefängnis. Es geht um schrecklich viel Stoff: immer wieder Heroin, den Schuss, der den Schmerz betäubt, ein dumpfes Leitmotiv für eine verpfuschte Existenz. Dass Christiane lebt, dass sie 51 geworden ist, mit ihrer schweren Hepatitis, ihrer kaputten Leber und der täglichen Ersatzdroge Methadon, dass sie trotz allem immer noch Lust und Neugier auf ein Morgen hat, erscheint wie ein Wunder. Wie die Berliner Oktobersonne, die, aller Kraft beraubt, immer noch ein wenig wärmt.

Der Kult aus der Gosse. Christiane Felscherinow, das war einmal Christiane F. Das junge Mädchen im geteilten Berlin steigt zum Mythos auf, weil es so tief gefallen ist. Die bildhübsche 14-Jährige aus desolater Familie liefert sich dem braunen Pulver aus und geht auf dem Westberliner Bahnhof Zoo anschaffen, um sich ihre Sucht zu finanzieren. Ein halbes Kind, das sich täglich betäubt und doch mit klarem Blick sein Elend seziert, schonungslos ehrlich, in jedem Detail, weil sie sich alles merkt, weil sie alles erschreckend intensiv erlebt.

Zwei „Stern“-Redakteure werden auf sie aufmerksam, planen eine Artikelserie, dann ein Buch, an das zuerst niemand glaubt. Kinder, die in der Gosse landen, sich aus dreckigen Spritzen Gift in die Venen jagen und ihren kranken Körper zu Markte tragen? Wer will so etwas lesen? Na alle. „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ wird ein ungeahnter Bestseller, ein Buch, das Generationen von Schülern bis heute mit heißen Wangen verschlingen, obwohl es Pflichtlektüre ist. Die satten Westdeutschen packt eine Mischung aus Abscheu, Mitleid und Faszination.

Christianes abgründiger Zauber verwandelt den nüchternen Tatsachenbericht in ein Stück nachtschwarze Romantik. Das Buch geht um die Welt. Der Erfolgsfilm von Bernd Eichinger steigert den nationalen Ruhm endgültig zum globalen Kult.

Dem Sohn entrissen. Und Christiane selbst? Das erste Buch endet damit, dass sie bei ihrer strengen Großmutter an norddeutscher Landluft genesen soll. Heute sinniert sie, wie beschaulich es dort hätte weiterlaufen können: ein Alltag als genügsame Buchhändlerin, mit Häuschen und Familie, „aber sicher dreimal geschieden – ihr kennt mich ja“. Auf ein solches „Happy End“ hofften die Leser. Es kam anders. Das nahe Hamburg lockte, es folgte der Teufelskreis aus Rausch und Entzug.

Einspruch! „Es gibt doch ein Happy End! Ich habe ein gutes Kind, das größte Geschenk, was für ein Privileg!“, auch wenn der Vater weiterzog wie so viele. Und überhaupt: „Ich bin seit ewigen Zeiten clean“, nur noch Alk und ein bisschen Gras. Der letzte schwere Absturz, das war, als man ihr Philipp wegnahm. Christiane wollte samt Sohn nach Amsterdam ziehen, das weckte Misstrauen.

Ihr wurde das Sorgerecht entzogen, das Kind zu Pflegeeltern gesteckt. Der lokale Boulevard schickte seine Paparazzi aus und weidete sich an den Seelenqualen einer Mutter. Heute hätte Christiane das Sorgerecht zurück, „aber ich kann doch meinen Jungen nicht aus dem Gymnasium in Potsdam rausreißen. Das wäre ziemlich egoistisch von mir. Ich bin es, die sich arrangieren muss.“

Jedes Wochenende kommt Philipp zu ihr, er ist jetzt 17, einen Kopf größer als sie, hat die ersten Mädchen. Nein, „es ist alles gut, wie es ist“. Wenn da dieses „verdammte Methadon“ nicht wäre. Jeden Tag muss sie zum Arzt am Hermannplatz, vor seinen Augen die Ersatzdroge schlucken. Das beschert ihr eine ewig rinnende „Pennernase“. Ständig schwitzt sie, auch im Winter. „Irgendwann krepier ich am Entzug“, auch von der Substitution will sie weg. Sie fühlt sich verfolgt, „die“ sind seit Jahren hinter ihr her. Biografin Vukovic lässt sie viele Seiten davon erzählen, befremdlich unkommentiert, nur in einem der informativen Zwischenkapitel werden kurz Psychosen als Folge der Sucht erwähnt.

Es ist der Preis für eine im Rausch verlebte Jugend, mit Begegnungen, um die viele Leser sie beneiden werden. Christiane lebte und liierte sich mit den Helden der deutschen Popmusik ihrer Zeit, mit den Musikern der Einstürzenden Neubauten, Palais Schaumburg, Abwärts. Auch sie selbst sang in einer Band, „aber doch nur zum Spaß, um die paar gepressten Platten verschenken zu können“. Sie traf Nina Hagen, Nick Cave und Depeche Mode, trank mit Billy Idol Saft, kokste mit Van Halen, kreiste mit David Bowie im Privatjet der Rolling Stones Runden über Berlin.

Frieden und Gewalt. Bis Daniel Keel, der Gründer des Diogenes Verlags, und seine Frau Anna sie nach Zürich holten, als Dauergast, der mit frecher Schnauze frischen Wind in ihre literarischen Zirkel brachte: „Die Patricia Highsmith hat immer ganz böse geguckt, wenn der Dürrenmatt beim Abendessen freundlich mit mir geplaudert hat.“ Aber die Promis bedeuten Frau Felscherinow wenig. Viel lieber redet sie über Literatur, von Dostojewski, Updike und Fallada. In der Justizvollzugsanstalt Plötzensee, einem Jahr voller Einsamkeit, trösteten sie „Hundert Jahre Einsamkeit“, fantastischer Realismus aus Lateinamerika.

Dass Menschen in den Knast müssen, nur weil sie harte Drogen kaufen, wie Polizisten mit Junkies umspringen, „das kotzt mich an“. Wir spazieren in der Abendsonne über die Hasenheide, wo Kinder spielen und kleine Dealer Gras verkaufen. In den Park kommt sie täglich mit ihrem braven Chow-Chow Leon, hier findet sie Frieden.

Christiane Felscherinow, die einst Christiane F. war, verabschiedet sich fröhlich und guter Dinge. Wenige Minuten danach, höre ich später, wird sie von einem Bulk von Punkern zusammengeschlagen. Alle sollen wissen, sagt sie weinend, „wie schnell sich mein Leben ändern kann!“. Aber es geht noch immer weiter, irgendwie. Auch wenn es wie ein Wunder wirkt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.10.2013)

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