Christian Seidel: Einmal Frau und zurück

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Der Autor Christian Seidel kleidete und gab sich eineinhalb Jahre lang als Frau- nicht aus sexueller Lust, sondern aus existenzieller Neugier. Mit verblüffenden Folgen.

Der Bummel durch ein Kaufhaus kann ein Leben verändern. Eigentlich wollte Christian Seidel nur die ihm verhasste lange Sportunterwäsche kaufen, um seine behaarten Beine gegen die Winterkälte zu wappnen. Aber dann landete der Münchner unversehens in der Damenwäscheabteilung. In einer fremden, wundersamen Welt: bunte Farben, zarte Stoffe, wohlige Düfte. Er fühlte sich wie ein Eindringling im verbotenen Schlaraffenland.

Aber der Dickschädel und Querfühler fasste vor Ort einen spontanen Entschluss: die Tabus, die Konvention und Erziehung in ihm errichtet hatten, zu durchbrechen. Erster Paukenschlag: Er kaufte sich halterlose Nylons. Was konnte es Unmännlicheres geben? Doch kaum war die „Peinlichkeitsgrenze“ überwunden, fühlte sich Seidel „freier, entspannter, vollständiger“. Und das war erst der Anfang.

Es folgten Stöckelschuhe, Make-up, Perücke und Plastikbrüste. Das volle Programm. Aus Christian wurde Christiane, nicht immer, aber immer öfter, für gut eineinhalb Jahre. Zurück in der Männerwelt hat er nun über seine Erfahrungen ein Buch geschrieben: „Die Frau in mir“. In den letzten Monaten seines Experiments begleitete ihn ein Dokumentarfilmer, das Ergebnis ist Ende Jänner auf Arte zu sehen.

Seidels Umfeld hatte die Schubladen für sein seltsames Treiben sogleich zur Hand. Christian sei eine Transe geworden, jedenfalls schwul, schlossen seine Freunde und wandten sich geschlossen von ihm ab. Doch sie täuschten sich. Ein Transsexueller sehnt sich danach, sein Geschlecht zu wechseln. Einem Transvestiten gibt das Tragen von Frauenkleidern einen erotischen Kick. Nichts von alledem hier. „Ich bin kein einziges Mal in meinem Leben mit meinem männlichen Körper im Unreinen gewesen“, erklärt der 54-Jährige der „Presse am Sonntag“. Und, für das Protokoll: „Ich bin ein heterosexueller Mann, liebe Frauen, bin verheiratet“ – und das glücklich seit acht Jahren.

Kleidung als Schlüssel. Warum also? Manch tolle Frau hat den Lebens- und Karriereweg des umtriebigen Medienberaters, PR-Zampanos und Filmproduzenten gekreuzt. Er managte Claudia Schiffer, coachte Arabella Kiesbauer, schrieb einen Spielfilm über Lady Di und erfand das Format der Castingshow für Models. So einer, möchte man meinen, sollte in der Welt der Weiblichkeit zu Hause sein. Doch Seidel trat als Macho auf, mit dem „automatisierten männlichen Imponiergehabe“. So blieb es beim „breiten Graben“ zwischen Mann und Frau. Um ihn zu überbrücken, wollte er seine weibliche Seite kennenlernen.

Das freilich wollen viele. Sie stürmen Meditationskurse, Mantragruppen und esoterische Seminare. Seidel aber hat den Schlüssel zum Weiblichen mit seinen Sinnen gefunden. Er genießt das Anschmiegsame an einem seidenen Kleid, die Schwere der Brüste, das Schweben auf hohen Absätzen, ein süßes Parfum auf der Haut oder das heimelige Gefühl, sich bei einem Begleiter einzuhaken. Über dieses „Trojanische Pferd“ gelangt er in „die Frau in mir“. „Richtig erlebe ich etwas nur, wenn ich es öffentlich signalisiere – und das geht hier nur über die Kleidung. Was sonst?“ Was Seidel so plausibel erscheint, ist ohne sexuelle Konnotation ziemliches Neuland. In den Crossdressing-Gemeinschaften treffen sich Gleichgesinnte nur in geschlossenen Räumen oder drehen allenfalls nächtens eine Runde um den Block. „In den Alltag verzahnt“ haben sie ihre Grenzüberschreitung nicht.

Wohin aber führt die konsequente Reise? Die Antwort, die das Buch gibt, muss männliche Leser irritieren: weg von den Männern, hin zu den Frauen. Seidel schwärmt von der „Offenheit und Vertrautheit“, die er plötzlich in Frauenrunden erlebt hat: „Es ist befreiend, wenn nicht die Geschlechtergrenze dazwischen ist.“ An den Männern lässt er hingegen kein gutes Haar. Seine Freunde habe er alle verloren. „Keine einzige interessierte Frage“ habe er von ihnen in der ganzen Zeit gehört. Sie alle seien Opfer eines „verhärteten und degenerierten Männerbildes“. Für dieses kategorische Herumhacken auf seinesgleichen erntet er nun Kritik. Aber er bleibt dabei: „Würde ich differenzieren und sagen, es gebe auch Ausnahmen unter den Männer, dann würde sich jeder als diese Ausnahme fühlen.“

Gern würde er auch mit ihnen „tuscheln, über Kleidung, Gefühle und Sexualität plaudern – aber das machen Männer ja kaum“. Immerhin: Ganz unschuldig seien auch die Frauen nicht an der Misere, denn sie „befeuern“ das Rollenbild: Sensibel soll der Partner sein, aber auch stark. „Dem Mann wird ein Spagat abverlangt, den er gar nicht erfüllen kann.“

Gattin als Freundin. Ein Spagat wurde auch Seidels Gattin abverlangt. Am Anfang ist sie nachvollziehbar schockiert: Sie habe doch einen Mann geheiratet, keine Frau. Fast geht ihre Ehe in die Brüche. Dann aber fügt sie sich erstaunlich gelassen in ihr Schicksal und zeigt Verständnis. Das Buch endet versöhnlich mit einer Reise nach Nizza, auf der sich beide erstmals als „Freundinnen“ begegnen. Den grundlegenden Einwand gegen solche Experimente kann freilich auch der suggestiv schildernde Autor nicht entkräften: dass erst die Polarität, die „Reibung am Fremden“ jenes Feuer entfacht, ohne das es weder Sexualität noch Kinder gäbe.

Doch seltsam: Auf seinem Grenzverkehr trifft Seidel immer wieder auf die Sexualität, die er nicht sucht. Lesben fühlen sich von „Christiane“ ebenso angezogen wie Heteromänner in Tanzclubs. Die Mann-Frau lächelt und entzieht sich. Einmal wird es hässlich: Im nächtlichen Park versucht ein grunzender Lüstling, seinen Geschlechtsgenossen in Frauenkleidern zu vergewaltigen.Trotz solcher Erlebnisse zieht der Grenzgänger ein positives Fazit: „Es ist eine der aufschlussreichsten Erfahrungen, die man als Mann machen kann.“ Einmal Frau zu sein, zumindest für ein paar Tage, empfiehlt er deshalb jedem, der genug „Sehnsucht, Offenheit und Wissbegierde“ mitbringt: „Was soll schon passieren? Und jetzt kann man ja sagen: Der Seidel hat es auch gemacht, und er lebt noch.“

Mann, Buch, Film

Christian Seidel (54) ist ein Autor aus München. Der gelernte Schauspieler war auch Journalist, Drehbuchautor und Produzent. Er entwickelte TV-Shows und managte Stars wie Claudia Schiffer und Arabella Kiesbauer.

Sein Buch „Die Frau in mir. Ein Mann wagt ein Experiment“ (288 Seiten) ist soeben im Heyne-Verlag erscheinen.

Die Dokumentation „Christian und Christiane“ von Dariusch Rafiy wird am 31.Jänner im Abendprogramm von Arte ausgestrahlt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.01.2014)

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