Löffler: »Ich hätte mir bessere Chefs gewünscht!«

Löffler
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Auch Kritiker haben Weltvisionen, sogar manchmal erstaunlich optimistische: Sigrid Löffler spricht über ihr neues Buch, das von Postkolonialismus und Migration handelt. Gegner beurteilt Löffler grimmig.

Die Presse: In Ihrem Buch „Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler“ beschreiben Sie die Lebenswelt von Migranten, post-kolonialen, auch vielen jüngeren Autoren. Ein tolles Buch.

Sigrid Löffler: Finden Sie? Das freut mich, danke.

Sind Sie für Schmeicheleien anfällig?


Nein, aber ein bisschen Zuspruch kann ich schon brauchen. Ich habe in Deutschland derart brutale und bornierte Verrisse für mein Buch bekommen, dass es mich freut, wenn jemand sagt, dass er etwas damit anfangen konnte.

Welche Gründe könnten die Verrisse haben? Sie haben ja selbst auch oft welche geschrieben.

Aber nur über Bücher, die ich tatsächlich auch gelesen hatte. Aus diesen Verrissen ersehe ich aber, dass mein Buch gar nicht richtig gelesen wurde. Die Print-Kollegen weigern sich offenbar, sich auf sein Thema und seine Struktur überhaupt einzulassen. Ich vermute, dass mir die Entdeckung eines Themas verübelt wird, das sie seit vielen Jahren übersehen. Ich habe mich für ihre Missgunst und ihre Unprofessionalität geschämt.

Haben Sie die Länder, über deren Autoren Sie schreiben, Kenia, Indien, Pakistan, auch selbst bereist?

Bei weitem nicht alle, ich kenne ganz gut die Karibik, den Maghreb und den Nahen Osten, und auch Ostafrika. Klarerweise war ich nie in Somalia, und ich habe mich auch nie nach Pakistan gewagt.

Die Befunde in Ihrem Buch wirken überwiegend pessimistisch: Explodierende Megacities, überforderte Arrival Cities wie Toronto oder New York, Entwurzelung, Existenzkampf, Umweltverschmutzung. Gibt es auch positive Perspektiven?

Globale Migration, Landflucht und Verstädterung sind heute die Welt-Themen, und daher auch die großen Themen der neuen Weltliteratur. Der Migrant ist die Leitfigur unserer mobilen Moderne. Mindestens ein Drittel der Weltbevölkerung ist unterwegs vom Landleben in die Städte, und diese Bewegung umfasst zwei bis drei Milliarden Menschen. Aber diese Menschenmassenverschiebung in nie dagewesenem Ausmaß hat auch positive Seiten. Menschen vom Land suchen in der Stadt ein besseres Leben, und schaffen das oft auch in ein, zwei Generationen. Sie bilden einen neuen Mittelstand, mit deutlich weniger, aber besser ausgebildeten Kindern. Die weltweite Urbanisierung wird also die Bevölkerungsexplosion auf dem Planeten bremsen. Nicht wenige Migrationsromane sind Erfolgsgeschichten. Sie erzählen, wie binnen wenigen Generationen die Metamorphose von der Armutswanderung zur Elitemobilität gelingen kann. Die Großeltern mühten sich noch in miesen Jobs um die Integration in den Zufluchtsländern; die Enkel sind bereits Kosmopoliten und verfügen souverän über ihre Lebens- und Kulturräume.

Vieles, was sich heute in den Entwicklungs-oder Schwellenländern ereignet, hat auch Europa erlebt und teilweise überwunden. Wie ist das gelungen? Ein Zufall?

In Europa herrscht heute zu viel selbstzufriedene Borniertheit. Dass die EU als Reaktion auf die Flüchtlinge in Lampedusa vor allem die Mauern hochzieht und Frontex aufrüstet, um Asylbewerber draußen zu halten, ist ganz offensichtlich die falsche Antwort. Deutschland ist gerade dabei anzuerkennen, dass es ein Einwanderungsland ist – und Österreich wird das auch begreifen müssen. England hat das bereits unter Tony Blair anerkannt, auch wenn David Cameron neuerdings wieder anders tönt.

Sie selbst beschreiben allerdings in Ihrem Buch die Umtriebe der rechtsextremistischen britischen „National Front“.

Als Folge des Zerfalls des britischen Empire hatte England nach dem Krieg Massenzuwanderungen aus den Kolonien zu bewältigen – mit allen feindseligen Reaktionen von Einheimischen wie Rassenkrawalle, Abdrängung der Zuwanderer in Slums und immer restriktivere Einwanderungsgesetze. Der Tiefpunkt war die Thatcher-Zeit. Davon erzählen viele Migrationsromane von karibischen, pakistanischen oder afrikanischen Zuwanderern. Mit seiner Parole „Inclusive Britain“ hat Tony Blair diese Politik geändert und anerkannt, dass Großbritannien eine multiethnische Gesellschaft ist. England hat den Postkolonialismus bereits hinter sich und ist in der postethnischen universalen Gesellschaft angekommen. Wie selbstverständlich den Engländern ethnische Mischungen inzwischen sind, können Sie in „London N-W“, dem neuen Roman von Zadie Smith, nachlesen: Da sind die buntesten Herkünfte inzwischen die Normalität.

In London und Spanien gab es terroristische Anschläge. Die junge Generation, vor allem jene der Muslime, hat schlechte Berufsaussichten. Sie glauben trotzdem, dass eine universale Gesellschaft funktionieren könnte?

Es gibt dazu keine Alternative, trotz allen Problemen. Zuwanderer sind ein Faktum, und Mischformen bereichern unsere Welt. Integration und Förderung sind die richtige Politik, nicht Abwehr und Grenzbefestigung. Das Problem der Radikalisierung zorniger junger Muslime muss allerdings bewältigt werden – vom Westen wie auch von der islamischen Welt. Alle diese Themen spielen natürlich auch in der Migrationsliteratur eine Rolle.

Wie viele Bücher haben Sie gelesen und haben Sie sich manchmal gedacht, oh Gott, was habe ich mir da angetan?

In das Buch sind mindestens dreißig Lektüre-Jahre eingegangen. Mein erster postkolonialer Autor war V. S. Naipaul, zu einer Zeit, als er noch kaum übersetzt war und nur in merkwürdigen Nischenverlagen erschien. J. M. Coetzee habe ich im Zuge meines Interesses an Südafrika schon früh entdeckt. Und dann führt ein Autor zum andern, ein Buch zum nächsten. An diesen Autoren haben mich eine Welthaltigkeit und ein Erfahrungsreichtum fasziniert, die ich in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur oft vermisse.

In Ihrem Buch kommen ein paar Mal liebevoll die Küchen der jeweiligen Ländern vor. Kochen Sie auch selbst?

Sehr gern. Wenn man wie mein Mann und ich in der Berliner Diaspora lebt, muss man sich Wien manchmal in Gestalt von Schnitzel und Kaiserschmarrn hereinholen. In den Migrationsromanen spielt die Küche der Herkunftsländer eine ganz wichtige Rolle. Für die Romanfiguren sind die heimischen Gerichte eine Art Heimatersatz. So können sie sich in der Fremde die Heimat wenigstens in Form ihrer Lieblingsgerichte einverleiben.

Sie haben selbst so eine Art Emigranten-Schicksal. Sie sind in Aussig im Sudetenland geboren, in Wien aufgewachsen – nach Berlin ausgewandert.

Mein Vater war Österreicher, meine Mutter Sudetendeutsche. Aber ich bin doch keine Emigrantin in dem existenziellen Sinn der Figuren in der Migrationsliteratur. Ich genieße nur die Freizügigkeit in der EU.

Sie sind ein Einzelkind oder? Haben Sie auch die typischen Eigenschaften von Einzelkindern? Sie stehen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit ihrer Eltern, werden intensiv geliebt und gefördert.


Ja, ich bin ein Einzelkind – und ein Nachkriegskind aus einer aufstiegsorientierten Kleinbürgerfamilie. Ich bin mit Sparsamkeit aufgewachsen. Meine Eltern mussten scharf haushalten, um mir meine Ausbildung zu ermöglichen, inklusive Schikurse und Klavierstudium am Wiener Konservatorium.

Man kann sich Sigrid Löffler schwer vorstellen, wie sie statt Bücher zu studieren, die Hänge runter saust.

Warum nicht? Ich bin gerne und ich glaube auch ganz gut und viel Ski gefahren.

„Die Presse“ Sudetendeutsche waren im Wien der Nachkriegszeit eine fixe Größe, diesen Menschen wurden bestimmte Eigenschaften zugemessen.

Dass sie Nazis waren....

Sie gelten als fleißig, stur und nicht gerade mit dem größten Humor gesegnet.

Wie kommen Sie auf solche Klischees? Ich habe mich nie als Sudetendeutsche verstanden, allerdings war mir in der Schule sehr bewusst, dass ich als Protestantin zu einer kleinen Minderheit gehöre im barock-katholischen Österreich der 1950er Jahre mit seiner Heimattümelei. Außerdem wurden wir von meiner reaktionären Deutsch-Lehrerin im Gymnasium am Wiedner Gürtel nur mit katholischen Schriftstellern traktiert. Gertrud von le Fort, Werner Bergengruen, Reinhold Schneider. Es war entsetzlich. Ich habe meine Gegen-Lektüre entwickelt und unter der Bank Sartre, Brecht, Kafka und Camus gelesen.

Sind Sie ein rebellischer Mensch? Von Ihren Arbeitgebern haben Sie sich oft nach Konflikten getrennt, z. B. Vom Profil, wo sie viele Jahre waren.

Ich hätte mir manchmal bessere, souveränere Chefs gewünscht, so jemanden wie Otto Schulmeister, der mein erster Mentor war. Leider bekam ich es meist mit unsicheren jüngeren Männern zu tun, die mir unbedingt den Herrn zeigen wollten. Ich erinnere mich an eine typische Szene. Ein profil-Chef, dem ich mein Manuskript abgab, sagte, wie sehr ihn meine Texte immer frustrieren: «Ich kann nichts dran verbessern.» Das war kein Kompliment, sondern eine Kündigung mit Ansage. Und so kam’s dann auch.

Was haben Sie für Erinnerungen an „Die Presse“?

Ich habe 1967 in der „Presse“ begonnen, und es war großartig. Die Zeitung gab uns jungen Leuten das Gefühl, die Welt habe auf uns gewartet. Wir konnten alles machen. Das war einfach wunderbar! Otto Schulmeister hat mich Greenhorn gleich in die Außenpolitik versetzt und im Sommer 1968 nach Prag geschickt. Dann wurde auch der Nordirland-Konflikt meine Domäne. Ein solcher Vertrauensvorschuss für jemanden, der sich die politische Bildung doch erst erarbeiten musste! Ich empfinde große Dankbarkeit, dass mich „Die Presse“ so gefördert und mir den Anfang meiner Karriere so leicht gemacht hat.

Von 1988 bis 2000 waren Sie ständige Teilnehmerin des legendären Literarischen Quartetts von Marcel Reich-Ranicki, das Sie nach einer Auseinandersetzung mit ihm verließen. Was ist da passiert?

Ich war damals überrascht von Reichs unfairer persönlicher Attacke während laufender Sendung, in der es doch eigentlich nur um die Debatte über eine zotige Roman-Übersetzung ging. Ich hatte ihm für einen solchen Ausraster nie den geringsten Anlass gegeben, im Gegenteil, ich war die dreizehn Jahre hindurch immer loyal zu ihm. Ich kann es mir im Nachhinein nur mit Eifersucht auf mein neues Projekt «Literaturen» erklären. Er war am Aufhören, während ich etwas Neues anfing, noch dazu in seinem Terrain und ohne seinen Segen. Schon das Konzept – Literaturen im Plural – muss ihn angewidert haben. So hat er sich in der drittletzten Sendung seinen Abgang mit großem Gala-Finale gründlich vermasselt.

Sehen Sie sich als Instanz? Als Reich-Ranickis Nachfolgerin?

Um Gottes Willen, das kann ich doch nicht sagen, das müssten andere feststellen.

Kritiker sind heute schon fast eine bedrohte Art. Es gibt so viele Arten von Beurteilungen, Rezensionen im Internet, Postings.

Würden Sie das Rezensionen nennen, wenn die Leute im Internet über ihre Begeisterungsanfälle oder ihre Ablehnungen delirieren? Aber Sie haben schon recht, Theaterkritiker sind vielleicht noch bedrohter als Literaturkritiker, weil es mehr Bücher gibt, über die man schreiben kann als Theaterstücke. Es hat sich schon viel verändert. Die Kritik wird vom Markt immer mehr entmachtet. Kunstkritik ist fast nur mehr Börsenbericht und Marktbeobachtung. Filmkritiker müssen sich damit herumschlagen, dass bei Hollywood-Blockbustern die eine Hälfte Produktionsbudget und die andere Marketing-Budget ist, mit dessen Hilfe Filme einfach in den Markt hinein gepresst werden. Da gilt das Wort des Kritikers nichts mehr. Verglichen damit geht es der Literaturkritik immer noch ganz gut.

Sind Sie froh, dass Sie aus Wien weg gegangen sind?

Ja. Ich bin zu spät gegangen. 22 Jahre profil waren viel zu lange.

Wie steht es um die Emanzipation der Frau?

In den 1970er-Jahren war ich eine kämpferische Feministin und habe in der Männerwelt des Journalismus dafür bezahlt. Jetzt engagiere ich mich nicht mehr. Die jungen Frauen heute müssen das selbst regeln. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist nicht wirklich geklärt. Für mich stand fest: Beides lässt sich nicht machen.

Steckbrief

1942
26. 7., geboren in Aussig, Sudetenland.

1967
Nach dem Studium der Anglistik, Germanistik, Philosophie beginnt Sigrid Löffler in der Außenpolitik der „Presse“ zu arbeiten.

1972
Löffler geht zum „Profil“, sie ist Kulturressortleiterin, schreibt Theaterkritiken und Essays, auch für große deutsche Zeitungen, und sie ist in der Jury von „Theater heute“.

1993
Nach Differenzen mit dem mittlerweile verstorbenen Chefredakteur Hubertus Czernin verlässt Löffler das „Profil“.

Von 1996-1999
ist Löffler Feuilleton-Chefin der „Zeit“.

2000
Herausgeberin des Magazins „Literaturen“. Nach Kontroversen über die Ausrichtung der Zeitung scheidet sie 2008 aus.

2014
Jüngst erschien „Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler“ (C.H. Beck).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.02.2014)

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