Helga Kinsky: "Dass ich lebe, ist Glück"

KZ Theresienstadt
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Als 13-Jährige wurde sie nach Theresienstadt deportiert, sie überlebte Auschwitz – nun arbeitet die gebürtige Wienerin Helga Kinsky daran, die Erinnerung an die Opfer des Holocaust lebendig zu halten.

Mit 13 Jahren wurde Helga Kinsky nach Theresienstadt deportiert. Sie spricht von „Glück“, dass sie all das, was ihr dort widerfuhr, überlebte. Heute ist die 85-Jährige, die 1930 in Wien als Tochter eines jüdischen Kaffeehausbesitzers geboren wurde, als Zeitzeugin unterwegs, die unter anderem in Schulen und bei Lesungen den Opfern von damals ein Gesicht gibt. Eine Grundlage ihrer Erinnerungsarbeit ist ein Tagebuch, das sie in Theresienstadt führte. Und das nun – angereichert mit Aufzeichnungen ihres Vaters Otto Pollak – erscheint.

1938 wurden Café und Wohnung des Vaters arisiert, Sie wurden zu Verwandten nach Südmähren gebracht. 1939 wurde die Rest-Tschechei zum Protektorat Böhmen und Mähren. Wie erging es Ihnen damals?

Helga Kinsky: Mein Vater schickte mich, sobald ich in Wien nicht mehr in die Schule gehen durfte, in die deutsche Schule nach Brünn, wohin wir bis 1940 konnten. Dann musste ich in die jüdische Schule. Als es hieß, dass Juden Bus und Bahn nicht mehr benutzen dürfen, fuhr ich zu meiner Familie nach Kyjov. Ich durfte nicht mehr in den Park gehen, nicht mehr mit nicht jüdischen Freundinnen spielen.

1941 wurde die Festung Theresienstadt zum Ghetto und Durchgangslager nach Auschwitz. Sie wurden dann im Jänner 1943 deportiert?

Seit die ersten Transporte abgingen, waren wir vorbereitet. Wir wussten, dass wir 50kg Gepäck mitnehmen durften. Man begann Sommer 1942 mit Probepacken. Man hat Kekse gebacken als Vorrat. Wir mussten uns in Ungarisch-Brod einfinden, da alle grenznahen Orte judenfrei gemacht wurden. Über 1000 fuhren im Zug nach Bohušovice, der nächstgelegenen Bahnstation. Es lag viel Schnee. Ich hatte Angina und hohes Fieber. Mein Vater, ein Kriegsinvalide mit amputiertem Bein, quälte sich auf Stock und Krücke vorwärts.

Wie war die Ankunft in Theresienstadt?

Es war wahnsinnig grau. Oft hat es unangenehm gerochen. Ein Großteil ging weiter nach Auschwitz, auch mein Onkel. Der Rest der Familie wurde auf die Unterkünfte verteilt. Ich kam in das Mädchenheim, Raum Nr.28. Es waren 15.000 Kinder in Theresienstadt.

Im Ghetto herrschten Überfüllung, Hunger und Epidemien. Hinzu kam die Angst vor den Transporten in den Osten.

Die Transporte waren schrecklich. Ich war bis zum 14. Lebensjahr sicher, da mein Vater als Kriegsinvalider anfänglich geschützt war. Meine Freundinnen, die für mich wie Schwestern waren, gingen. Ab Mai 1944 begann meine Familie zu gehen.

Die jüdische Selbstverwaltung achtete auf die Versorgung und Bildung der Kinder – wurden auch Sie künstlerisch gefördert?

Künstlerische Arbeiten fanden heimlich statt, später wurden sie von den Nazis zur Propaganda verwendet, aber Hefte oder Lehrbücher hatten wir nicht. Unsere Betreuerin, eine Musiklehrerin, leitete den Chor. Sie wählte die Kinder für die Oper „Brundibár? von Hans Krása aus. Ich war nicht so musikalisch, außerdem oft krank und lag im Marodenzimmer.

Am 23.6.1944 besuchte eine Delegation des Internationalen Roten Kreuzes das Ghetto. Haben Sie den Besuch erlebt?

Wir schauten aus dem Fenster. Im Musikpavillon im hergerichteten Park spielte eine Kapelle den Schlager „Für dich habe ich mich schön gemacht“. Doch der Schweizer Delegierte verstand es nicht. Er ließ sich von der SS in Zivil führen. Niemand durfte ihn ansprechen, auch nicht der Ältestenrat. Er hat nirgends hineingeschaut, sonst hätte er die katastrophalen Zustände gesehen.

1944 wurde der Propagandafilm „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“ gedreht. Regie führte der Berliner Schauspieler Kurt Gerron. Sie haben den Dreh miterlebt?

Wir mussten x-mal vor der Kirche mit Spaten und Rechen von links nach rechts marschieren und singen. Kurt Gerron stand auf der Stiege und pfiff: „Noch einmal zurück! Noch einmal nach vorn.“

Sie wurden im Oktober 1944 nach Auschwitz deportiert?

Damals ging ein Transport nach dem anderen. Von 30 Mädchen im Zimmer waren vier übrig. Wir wussten nicht, was Auschwitz ist, es hieß „Familienlager Birkenau“. Ich dachte, ich treffe dort meine Familie wieder. Der Zug stand still, man sah Stacheldraht und Scheinwerferlicht. Die Viehwaggons wurden aufgerissen. Alle mussten sich in Fünferreihen aufstellen, an Mengele (Josef Mengele war KZ-Lagerarzt in Auschwitz, Anm.) vorbei, Name und Geburtsdatum sagen, und er entschied: rechts oder links. Die rechts blieben am Leben, die links gingen in den Tod: 1500 Menschen. Die restlichen 200 haben durch Glück überlebt.

Sie wurden damals für den Arbeitseinsatz ausgewählt?

Mengele hat uns nach rechts geschickt, aber nicht viele. Eine Schreiberin nahm unsere Namen für den Transport auf: „Keiner ist jünger als 18!“ Als die Front näherrückte, waren wir acht Tage im offenen Viehwaggon unterwegs. Die Schienen waren verstopft. Wir sagten denen von der SS, sie sollen uns nach Theresienstadt bringen. Die waren begeistert, uns loszuwerden.


Im April '45 wurde Theresienstadt vom Roten Kreuz, am 8.Mai von der Roten Armee übernommen. Wie haben Sie das erlebt?

Wir bekamen Päckchen. Ich musste in Quarantäne, weil Flecktyphus herrschte. Ich lag in einem Raum mit weißer Bettwäsche und fand das fantastisch. Es fingen dann Transporte an, um die Gefangenen zurückzubringen.

1945 fuhren Sie zu Ihrer Mutter nach England – und 1950 waren Sie in Wien?

Ich habe meinen Vater besucht, der in einem dunklen Zimmer im Erdgeschoß im fünften Bezirk wohnte. Damals herrschte in Wien große Armut. Allerdings gab es Lebensmittel, die in England nur auf Ration erhältlich waren.


Nun sind Sie seit Jahren als Zeitzeugin unterwegs. Wie erleben Sie das?

Ich bin hauptsächlich in Deutschland in Schulen unterwegs. Der Kontakt ist sehr positiv, offen, engagiert. Es gibt viele Privatinitiativen zur Aufarbeitung der Vergangenheit und Projekte mit Kindern. Da habe ich andere Erfahrungen als hier.

Zum Holocaust-Gedenktag am 27.Jänner sprachen Sie vor der UNO in Genf. Was wollten Sie dort vermitteln?

Ich werde nie verstehen, dass man Menschen, egal welcher Religion, maschinell vernichten will. Es ist ein großer Schmerz, mit dem ich nicht fertigwerde. Dass ich noch lebe, ist Glück. Trauern kann man nur für die, die man kannte. Man kann nicht für sechs Millionen trauern. Ich will sagen, dass die Menschen tolerant sein sollen. Und auf ihre Sprache achten müssen, denn der Hass fängt mit der Sprache an.

Das Buch

„Mein Theresienstädter Tagebuch 1943–1944“ von Helga Pollak-Kinsky.

Verlag Edition
Room 28, Berlin,
22,70 Euro

www.edition-
room28.de

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.02.2014)

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