Milo Rau: "Kriege werden wieder hier stattfinden!"

Milo Rau
Milo RauAPA/YURI KOCHETKOV
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Er schaue hinab in das große Rätsel der Menschheit, sagt Milo Rau. In 20 Ländern, auch in Wien, waren seine Performances zu sehen. Sein neuestes Projekt handelt von Radikalismus und heißt "The Civil Wars".

Ihr „International Institute of Political Murder“ befasst sich mit der multimedialen Bearbeitung gesellschaftspolitischer Konflikte. In Wien waren z.B. Aufführungen wie „Hate Radio“ über den Völkermord in Ruanda oder „Breiviks Erklärung“ zu sehen. Sind Sie eine Art Nachfolger von Christoph Schlingensief (1960–2010)?

Milo Rau: Schlingensief hat eine große Lücke hinterlassen. Allerdings funktioniert seine Kunst nicht in Abwesenheit von ihm, wie ich bei der großen Retrospektive in Berlin feststellte. Ich war oft in seinen Inszenierungen, aber man kriegt jetzt nicht mehr mit, was das war. Auch die Art des Aktivismus hat sich seit Schlingensief stark verändert.

Inwiefern?

Schlingensief ist der letzte Künstler der BRD old style. Er hatte diese Obsession mit dem deutschen Faschismus wie viele deutsche Künstler. Ich habe ihn sehr geschätzt. Aber ich arbeite global.

Auch Sie befassen sich mit Faschismus.

Der Faschismus war lange tabuisiert, aber er war natürlich da. Wenn man die Wahlerfolge der SVP oder der FPÖ sieht, werden diese mit faschistischen Themen errungen, wenn man als Maßstab anlegt, dass es möglichst viel Glück für ein Volk geben soll, zu dem man zufällig gehört, egal, ob das jetzt Österreicher oder Schweizer sind.

Worum geht es in „The Civil Wars“?

Brüssel ist die Hochburg der europäischen Salafisten. Tausende Jugendliche gingen nach Syrien, um gegen Assad zu kämpfen. Das ist die eine Seite. Die andere ist diese starke rechtsradikale Partei, Vlaams Belang. Ich habe bei deren Veranstaltungen viel Zeit verbracht. Diese Leute singen Hitler-Lieder und legen eine Gedenkminute für SS-Führer Erich Priebke (1913–2013) ein, der an Geiselerschießungen beteiligt war und als Kriegsverbrecher in Italien zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Diese Leute sind so faschistisch, wie man sich das gar nicht vorstellen kann in deutschsprachigen Gebieten.

Es geht um radikale muslimische und radikale europäische Bewegungen?

Ich spreche mit Gruppen, die sich bewaffnen, um einen Kampf zu führen bzw. in den nächsten zehn Jahren versuchen werden, einen Bürgerkrieg zum Ausbruch zu bringen, z.B. damit Flandern unabhängig wird oder ein Gottesstaat errichtet werden kann. Das sind natürlich Minderheiten, aber auch die Nationalsozialisten waren eine Minderheit, ein paar Irre, die zuerst keiner ernst genommen hat.

Warum geben Sie einem Wahnsinnigen wie Anders Breivik, der 2011 bei seinem Amoklauf 77 Menschen, darunter viele Kinder, getötet hat, überhaupt eine Bühne?

Die deutschtürkische Schauspielerin Sascha Ö. Soydan hat Breiviks Erklärung verlesen. Sie liest das relativ langsam, um den Leuten Gelegenheit zu geben, darüber nachzudenken und sich zu fragen, ob sie nicht an vielen Stellen der gleichen Meinung sind wie Breivik. Die Performance wurde in Wien, aber auch in Basel bei einem Festival gezeigt. Da gab es den üblichen moralischen Aufstand. Der Festivalleiter, ein typischer Linksintellektueller, der Multikulturalismus bis aufs Messer verteidigen würde, sagte dann in der TV-Talkshow: Was ist, wenn Breivik recht hat, und in 100 Jahren in Europa niemand mehr deutsch spricht und es islamische Staaten gibt? Ich möchte, dass sich die Leute mit solchen Themen auseinandersetzen. Das geht nur im Theater. Im Fernsehen kann man zappen, im Internet weiter scrollen, im Theater hört man sich das 75 Minuten an, was Breivik sagt, und muss sich fragen: Wo stehe ich?

Vielen Leuten ist das alles womöglich egal, solange es sie nicht betrifft.

Genau. Es war den Leuten auch egal, als die Juden umgebracht wurden. Bei einer dieser Veranstaltungen der Rechtsradikalen in Brüssel wurde gesagt, es wird keine politische Lösung geben. Ich habe gefragt: Was heißt das? Die Anwesenden haben gelacht. Jeder im Raum wusste, was das heißt. Es wurde bei dieser öffentlichen Versammlung auch ausgesprochen: Man muss gewisse Leute eben wegschaffen.

Die Erinnerungskultur hat nichts gebracht?

Ich glaube, dass es extrem schnelle, letztlich lebensbiologisch bedingte Vergessensmechanismen in allen Kulturen gibt. Man denkt, man hat das überwunden, man denkt, es ist vorbei, aber der Faschismus ist nicht überwunden. Ich glaube, wir sind jetzt in einem Zustand wie im 19. Jahrhundert. Damals gab es kleine Kabinettskriege, die Europäer haben ihre Konflikte exportiert, und zwar bereits damals nach Afrika. Wenn der Zeitpunkt kommt, wo das nicht mehr funktioniert, finden die Kriege wieder hier statt. Wir gehen auf ein gewaltiges Zeitalter der Vernichtung zu. Ich bin Realist.

Sie sind zu pessimistisch. Viele Europäer leben heute besser und friedlicher als jemals.

Nietzsche hat etwas Ähnliches gesagt wie Sie, frei formuliert: Wir leben in einem unglaublich langweiligen, bürgerlichen Zeitalter. Das war 1880 oder 1890. Etwa 20 Jahre später wurde die gesamte europäische Jugend in einem Grabenkrieg ermordet und nochmal 20 Jahre später gab es den größten Genozid der Menschheitsgeschichte.

Sie recherchieren, aber Ihr Theater ist nicht dokumentarisch, sondern Spiel. Sie wollen sich absetzen von Fakten, von Medien.

„Hate Radio“ habe ich gemacht, weil ich wissen wollte, warum Jugendliche in Ruanda, die die gleiche Musik wie ich gehört haben, ihre Klassenkameraden vergewaltigt und umgebracht haben. In welcher Welt leben wir? Das interessiert mich. Ich gehöre zu einer globalisierten Generation, die in Dialog treten muss mit Gebieten, die weit weg von uns sind, aber trotzdem etwas mit uns zu tun haben. Ich wehre mich gegen den Begriff dokumentarisches Theater. Ich mache Performances.

Wie wählen Sie Ihre Themen aus?

Ich schaue hinab in das große Rätsel der Menschen, wenn sich in mir ein Konflikt zeigt und ich überhaupt nicht weiß, was das soll. Warum tragen Faschisten Nelson-Mandela-T-Shirts? Warum ist Breivik auch ein Linker?

Was hat Sie geprägt?

Der zweite Mann meiner Mutter war Trotzkist und hat mich in die marxistischen Klassiker eingeführt. In Paris habe ich beim Soziologen Pierre Bourdieu studiert, der vor Ort recherchiert und mit Leuten gesprochen hat.

Der Kommunismus ist gescheitert, aber die soziale Frage gibt es weiter und die Probleme sind eher größer als kleiner geworden.

Da haben Sie recht. Historisch ist der Kommunismus absolut gescheitert.

Auch das amerikanische Zeitalter scheint zu Ende zu sein, meinen viele.

Und ich bin nicht sicher, ob wir als Europäer mögen werden, was danach kommt. Das amerikanische Zeitalter war für mich der letzte westliche organisierte globale Lebensstil. Und: Die Amerikaner haben jenseits der Kultur und der Rasse eine nationale Idee entwickeln können. In den südlichen Staaten der USA sprechen mehr Leute spanisch als englisch, aber das führt nicht zu einer Sezession.

Viele Menschen auf der Welt träumen noch immer davon, nach Amerika zu gehen.

Ich war in einer Bar und habe amerikanische Songs gehört. Ich dachte, wird es je eine Kultur geben, die stärker, tiefer wirkt als die amerikanische? Aber es entwickeln sich jetzt andere Zentren der Kultur, auch der Popkultur, und andere Glaubenssysteme. Für europäische Rechtsradikale und islamische Rechte ist die soziale Frage inexistent, sie haben extrem hierarchische Gesellschaftsvorstellungen und wollen die Rechte der Frauen beschneiden.

Sind Sie religiös?

Nein, das hat mich nie interessiert.

Also bleibt nichts von Ihnen?

Darüber kann man streiten. Die Menschheit, würde ich sagen, existiert als ein großer Zusammenhang. Die Brille, die ich trage, hat jemand anderer erfunden, der tot ist, aber ich trage die Brille. Das Wissen geht weiter. Mein Großvater, der für mich sehr wichtig war, lebt in mir tatsächlich, nicht nur genetisch, auch empirisch.

Obwohl Sie pessimistisch wirken, haben Sie Kinder. Glück im Privaten ist also möglich?

Ich habe mir solche Fragen auch gestellt. Ich habe zwei Mädchen, drei und sechs. Meine Frau ist Grafikerin. Wir arbeiten zusammen. Trotzdem: Das Glück Einzelner bedeutet Unglück für die zehnfache Zahl von Menschen. Diese Länder, die wir zwingen, Rohstoffe billig zu produzieren, damit wir alle diese Gegenstände haben. Das globale System ist eines der Ausbeutung. Wir haben das Glück, momentan on the top zu sein. Aber wie lange?

Herr Rau, darf man Sie auch fragen...

1... ob Sie schon einmal gescheitert sind?
Ich produziere billig, und wir haben ganz gute Einnahmen. Aber ich hatte zuvor schon andere Produktionsgesellschaften. Der letzte finanzielle Zusammenbruch war 2007. Einmal scheiterte es an einem Kinofilm, das andere Mal an rechtlichen Problemen.

2... ob Sie schon einmal daran gedacht haben, etwas ganz anderes zu machen?
Sie meinen, ich sollte meine Zeit in etwas investieren, was klassischen Mehrwert generiert? Dann würde ich wahrscheinlich reicher werden. Aber ich habe leider kein Talent dafür.

3... ob Sie glauben, dass Ihr Theater etwas verändert?
Man hat keine Wahl als ein bisschen pädagogisch zu denken und an die zivilisierende Wirkung der provozierenden Kunst zu glauben. Die Aufklärung hat auch einen Sinn. Ich will Konflikte direkt erlebbar machen. Auch meinen Studenten sage ich: Ich will von euch keine Informationen und keine Power-Point-Präsentationen.

Steckbrief

1977
Milo Rau wird am 25.1. in Bern geboren.

2002
Studium an der Sorbonne, in Zürich, Berlin (Germanistik, Romanistik, Soziologie), Abschluss mit einer Arbeit über die Aufführbarkeit von Kleists „Penthesilea“, Dissertation über Reenactements (Nachstellung historischer Ereignisse).

2003
Nach journalistischer Tätigkeit Arbeit am Staatsschauspiel Dresden, am Berliner Maxim-Gorki-Theater und am Züricher Theaterhaus in der Gessnerallee.

2007
Gründung des Institute of Political Murder mit Sitz in der Schweiz und in Deutschland.

2012
„Hate Radio“ gastiert im Brut in Wien.

2013
„Was tun?“ von Milo Rau erscheint im Verlag Kein & Aber.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.03.2014)

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