Jaklin Freigang: "Für mich war das eine Art Sklaverei"

Jaklin Freigang
Jaklin Freigang Die Presse
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Jaklin Freigang war eine der Ersten, die die Situation der Gastarbeiter in Österreich untersucht hat – in einer Zeit, in der von Integration noch lange nicht die Rede war.

Sie sind 1961 als Studentin nach Wien gekommen, da war der Österreichische Staatsvertrag gerade einmal sechs Jahre alt. Was für eine Stadt haben Sie vorgefunden?

Jaklin Freigang: Ich habe in der österreichischen Schule in Istanbul maturiert, da will man natürlich auch Österreich sehen. Ich bin mit idealisierten Vorstellungen gekommen, die in Widerspruch zu dem standen, was ich vorgefunden habe. Ich fand eine düstere Stadt vor, die einseitig, eintönig und eher arm war. Für eine türkische Lira habe ich drei Schilling bekommen. Ich war enttäuscht, ich dachte: Ich muss das ein Jahr aushalten, dann gehe ich wieder.

Sie sind in Wien geblieben.

Nach einem Jahr habe ich verstanden, dass ich im Wien der Nachkriegszeit und nicht der Wiener-Kongress-Zeit lebe. Ich habe die politische Freiheit entdeckt, das war am 1. Mai. Bei uns war der Maiaufmarsch sehr gefährlich. Ich bin also Richtung Parlament gegangen, wollte nur von Weitem schauen. Ich sah eine Gruppe, einige hatten kommunistische Fahnen in der Hand. Sie kritisierten die Regierung, diskutierten laut über Marx, und mein Herz klopfte. Ich dachte: Gleich kommt die Polizei und räumt den Platz! Aber es ist nichts passiert! Das zweite Mal, als ich erkannt habe, dass es wert ist, hier zu leben, war bei einem Gespräch mit einem Straßenkehrer. Er sagte zu mir: „Nächste Woche mache ich Urlaub in Paris.“ Nicht einmal meine frankophilen Eltern waren in Paris.


Aber der Straßenkehrer aus Wien.

Ich dachte: Was ist das für ein System, in dem sich ein Straßenkehrer einen Urlaub in Paris leisten kann? Das hat mich begeistert und neugierig gemacht.


Istanbul war zu diesem Zeitpunkt auch eine lebendige und bunte Stadt. Sie selbst stammen aus einer christlichen Familie.

Mütterlicherseits war mein Großvater Armenier, die Großmutter Griechin. Sie waren wahrscheinlich nicht sehr religiös. Meine Mutter hat einen Araber geheiratet, der Katholik war. Es war schon üblich, dass die Christen unter sich heirateten, aber es waren immer verschiedene Richtungen. Als Kind war ich in einer griechisch-orthodoxen Schule, ich bin aber auch im Vorschulalter in die Koranschule und oft in die armenische Kirche gegangen.

Dieses Istanbul gibt es nicht mehr.

Nein. Mir fehlt das wahnsinnig. Istanbul – vor allem die europäische Seite – war armenisch, griechisch, tscherkessisch und wurde von Kulturen anderer Ethnien geprägt. Ich vermisse die damalige Interkulturalität und Durchschaubarkeit der Stadt. Als ich nach Wien gekommen bin, hatte Istanbul knapp zwei Millionen Einwohner. Heute ist die Stadt doppelt so groß wie Österreich. Ich kann mich dort nicht mehr so orientieren wie in Wien.

In den frühen 1970er-Jahren haben Sie als eine der Ersten die Situation der Gastarbeiter untersucht. Welche Bedingungen haben Sie vorgefunden?

Ich habe bis zu 300 Interviews in Österreich geführt. Dann habe ich mir gedacht: Das ist Demokratie? Das ist Rechtsstaatlichkeit? Wo sind die Menschenrechte? Ich habe vorhin gesagt, dass mir das imponiert hat mit dem 1.Mai und dem Straßenkehrer. Das war auch so, bis ich begonnen habe, mit Ausländern zu arbeiten. Die persönliche Konfrontation mit Fremdenfeindlichkeit begann, wenn auch unterschwellig, erst in meinem Berufsleben.

Was ist passiert?

Das Ausländerbeschäftigungsgesetz war an das Fremdengesetz gekoppelt und eines der restriktivsten in ganz Europa. Fand eine Firma keinen Inländer, bekam sie eine Bewilligung für die Beschäftigung eines Ausländers für ein Jahr. Die Menschen hatten, bis auf Arbeitsrechtliches, praktisch keine Rechte. Das Gesetz war elastisch. Wenn man jemanden abschieben wollte, konnte man das jederzeit tun, auch wenn er nur falsch geparkt hat. Ich habe das in Niederösterreich erlebt: Ein Arbeiter wollte, wie seine österreichischen Kollegen, sonntags nicht arbeiten. Die anderen Ausländer haben am Sonntag gearbeitet. Deswegen wollte man ihn abschieben, aber er ist geflüchtet und hat mich in zerrissenem Gewand in der Beratungsstelle gefunden. Für mich war das eine Art Sklaverei. Natürlich, wenn ich das gesagt habe, kam die Antwort: Wir haben sie nicht gezwungen, sie sind freiwillig gekommen. Die Türken hingegen haben gesagt: Unser Staat hat uns verkauft, und dieser hier nützt uns aus.

Waren die Gastarbeiter wirklich so hilflos?

Mich hat ihre Unwissenheit so deprimiert. Sie kannten nicht einmal die Großstädte in ihrer Heimat. Als ich in einer Vorarlberger Firma war, wurde ich von den Arbeitern gefragt, was ich arbeite. Ich sagte, ich habe Soziologie studiert. Während des Gesprächs kam ein älterer Mann und kniete vor mir nieder. Er sagte: „Bitte helfen Sie mir, ich verliere mein Augenlicht.“ Sie haben gedacht, ich bin Ärztin! Und all die anderen Männer konnten keinen Arzt für ihn organisieren.

Als Sie Ihre Studien durchgeführt haben, war da von Integration die Rede?

Bis 1990 hat man hunderttausend Gastarbeiter nach Hause geschickt und die anderen, die man brauchte, behalten. Erst ab dann hat man erkannt: So geht das nicht weiter, wir müssen jetzt Integrationspolitik machen, um Chaos im Sozialsystem zu verhindern – also keine neuen Arbeiter holen, sondern die Bestehenden integrieren, eine gewisse Gleichheit schaffen. Aber was ist eigentlich Integration? Es gibt viele wissenschaftliche Theorien darüber, einig sind sich alle nur, dass Integration nicht Assimilation bedeutet.

Aber gab es bereits in den 1970er-Jahren einen Assimilationsdruck?

Ja. Bis jetzt ist es so. Weil wir uns nicht als Einwanderungsland deklarieren.

Und was war die Antwort der Gastarbeiter?

Sie haben eine eigene Migrantenkultur entwickelt, indem sie gesagt haben: Ich löse meine Probleme allein mit meinen Landsleuten. Es gab ja keinen Hilfsanspruch, etwa von städtischen Organisationen. Auch die Gewerkschaften haben sich nicht für sie interessiert. Die Gastarbeiter hatten lange keinen Anspruch auf Sozialwohnungen. Sie haben für Wohnungen, die für Österreicher unzumutbar waren, viel Miete bezahlt – und diese Wohnungen immer selbst bewohnbar gemacht.

Ab den 1990er-Jahren fand also ein Umdenken statt, die Integrationspolitik wurde aktiv angegangen. Zu diesem Zeitpunkt hatten viele Gastarbeiter bereits ihre Familien nach Österreich geholt.

Am Anfang kamen nur junge, arbeitsfähige Männer. Das Durchschnittsalter war 35. Im Jahr 1978 wurde die Familienbeihilfe für die Kinder, die noch in der Heimat waren, halbiert. Die Begründung war, dass die Lebensbedingungen dort günstiger sind als in Österreich. Also haben viele Väter ihre Familien nach Österreich geholt – und plötzlich waren die Schulen voll mit Kindern ohne Deutschkenntnissen. Die Lehrer, auch wenn sie sehr engagiert waren, waren nicht vorbereitet. Ein Lehrer sagte zu mir: „Wir benoten nach dem Leistungsprinzip. Wenn mir ein österreichisches Kind einen Aufsatz bringt, bringt mir ein türkisches Kind vier Aufsätze – aber ich kann nichts damit anfangen, das ist nicht Deutsch.“ Das Prinzip Leistung funktionierte nicht!

Sie haben sich lange mit Integrationspolitik beschäftigt. Heute wissen wir, dass von Anfang an viel schiefgelaufen ist. Was können wir eigentlich aus den vergangenen 50 Jahren lernen?

Wenn ich als Rechtsstaat fremde Menschen hole, die nicht drei, sondern viel mehr Monate im Land bleiben sollen, dann muss ich mich fragen: Wer sind diese Leute? Ich muss von Anfang an eine gewisse Gleichheit schaffen. Sie sollen die gleichen Bedingungen vorfinden, die auch für Inländer gelten, bei der Arbeit, in der Schule, im sozialen Bereich, Wohnen, Recht. Ziel der Demokratie ist die Gleichheit, der Weg dorthin führt durch die Akzeptanz der Differenz.

Der Zugang zur Integrationspolitik hat sich aber auch geändert. Nicht nur die Betroffenen selbst, sondern auch die Zivilgesellschaft hat ein Bewusstsein für die Lage der nunmehrigen Migranten entwickelt. Man beschäftigt sich mit dem Thema.

Natürlich, auch dank der Arbeit von vielen NGOs. Aber bis heute ist die Integrationspolitik sehr oberflächlich geblieben. Heute haben wir politische Flüchtlinge, Wirtschaftsflüchtlinge, Steuerflüchtlinge usw. Heute spricht man vielmehr von Diversitätspolitik.

Steckbrief

1941
Jaklin Freigang wird in Istanbul geboren. Sie maturiert im österreichischen St.-Georgs-Kolleg und inskribiertin den frühen 1960er-Jahren Soziologie an der Uni Wien.

Ab 1971 erstellt Freigang im Auftrag des Ifes Studien über die Lage der Gastarbeiter in Österreich, anschließend heuert sie in einer Beratungsstelle für Zuwanderer in Wien an.

Die Soziologin untersucht auch die Lage der ausländischen Arbeitnehmerinnen sowie jene der türkischen Pflichtschüler. 2008 wird ihr das Bundes-Ehrenzeichen für ehrenamtliches Engagement im Bereich des interkulturellen Dialogs verliehen.

Frau Freigang, darf man sie auch fragen...


1. . . was Heimat für Sie bedeutet?
Es sind Orte meiner Kindheit: Häuser, Gegenden und Straßen. Diese Orte gibt es in Istanbul nicht mehr, daher spielt sich Heimat für mich im Kopf ab. Heimat ist für mich ein Gefühl der Kindheit und die Suche nach Geborgenheit.

2. . . ob Sie lange an Heimweh gelitten haben?
Die ersten Jahre schon. Später fand ich Gleichgesinnte und Räume, in denen ich mich orientieren konnte. Dort habe ich meine mitgebrachten Wurzeln geschlagen.

3... wo Sie in 1960er-Jahren in Wien einkaufen gegangen sind, wenn sie ein türkisches Frühstück wollten?
Ein türkisches Frühstück war zur damaligen Zeit fast unmöglich. Schafkäse, Wassermelonen und Oliven waren fast nicht zu finden. Oliven waren Luxus pur. Einmal habe ich sie mir geleistet, in einem teuren Spezialitätengeschäft im ersten Bezirk.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.05.2014)

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