Suche nach Erinnerungen: Schätze aus den Dachböden

Egon Poetzl (l.) mit Kameraden der Militärakademie um 1915
Egon Poetzl (l.) mit Kameraden der Militärakademie um 1915Privat
  • Drucken

Das Projekt Europeana 1914–1918 sucht Fotos, Dokumente und Objekte aus dem Ersten Weltkrieg, die dann im Web öffentlich zugänglich gemacht werden.

Dachböden sind ja eher keine öffentlichen Räume. Was dort lagert, mag zwar viel Platz haben, vor Wind und Wetter geschützt sein und niemandem im Weg herumstehen. Doch vom bloßen Dasein abgesehen, erfüllen all die Kisten, Schachteln und Ordner vor allem eine Funktion, nämlich als Trägermedium für eine stetig anwachsende Staubschicht zu fungieren. Wirklich spannend wird es erst, wenn sich jemand die Mühe macht, all die Schätze zu haben. Und dabei auf alte Briefe, Tagebücher, Fotos und anderes Material stößt, das einen Blick in die Vergangenheit machen lässt. Was bei all jenen, die ihre eigenen Erinnerungen aus dem Staub bergen, ein wohliges Gefühl der Nostalgie aufkommen lässt. Was jedoch allzu oft nur ein Schulterzucken hervorruft – dann nämlich, wenn es nur darum geht, die alten Sachen zu entsorgen, die jemand anderer hinterlassen hat. Und zu denen man selbst gar keinen Bezug hat.

Und so endet manches Fotoalbum, manche Schachtel mit alten Briefen und manches Kinderbuch mit handschriftlichen Notizen darin im Altpapier oder im Restmüll. Was schade ist. Denn für den einzelnen mögen die vergilbten Bilder des Urgroßvaters im Krieg und die Kochrezepte der Großmutter keinen Wert haben, doch als zeitgeschichtliche Dokumente können sie trotz allem interessant sein. Sie können Dinge über den Alltag früherer Zeiten verraten. Sie können Hinweise auf Moden, Verhaltensregeln oder Familienverhältnisse liefern. Und nicht zuletzt lassen sich anhand der Lebenswege von Menschen politische oder wirtschaftliche Ereignisse plastisch darstellen, die sonst nur als abstrakte Größe in den Geschichtsbüchern stehen. Hunger, Angst und Kälte an der Front? Lässt sich aus einer Feldpostkarte gleich viel deutlicher erahnen. Ein Foto vom Picknick mit Knackwurst am Kahlenberg als Urlaubsentwurf nach dem Krieg gegenüber einem Bild vom Italien-Urlaub, das zwanzig Jahre später entstand – all diese Informationen lassen sich aus scheinbar alltäglichen Dokumenten herauslesen.

Rettung vor dem Mistkübel. All das verborgene Material von den Dachböden zu holen und für die Wissenschaft – und in weiterer Folge auch für die Öffentlichkeit – zugänglich zu machen, ist dann auch das Gebot der Stunde für diverse Archive und Museen. Ob im Original – als Schenkung oder Verkauf – oder als digitales Abbild. Hauptsache, die Information geht nicht verloren, sondern kann irgendwann genauer betrachtet, mit anderen Ereignissen verknüpft oder für eine Publikation oder eine Ausstellung aufbereitet werden.

Eines der jüngsten Projekte dabei ist Europeana. Die virtuelle Bibliothek im Internet sucht nach Erinnerungsstücken von Menschen, die dann öffentlich zugänglich gemacht werden. Crowdsourcing (zusammengesetzt aus dem englischen crowd für Menschenmenge und outsourcing für das Auslagern von Aufgaben) nennt sich die Methode, die hier angewandt wird. Menschen werden ermuntert, Briefe, Fotos, Tagebücher oder Filme einzuscannen und online zur Verfügung zu stellen. Ein spezieller Fokus liegt dabei – passend zum 100. Jahrestag – auf dem Ersten Weltkrieg. Europeana 1914 – 1918 hat bereits mehr als 130.000 private Erinnerungsstücke gesammelt, digitalisiert und verfügbar gemacht.

Um es den Menschen leichter zu machen, werden auch eigene Veranstaltungen abgehalten, zu denen Menschen ihre Erinnerungsstücke mitnehmen können. Sie werden dort fotografiert oder eingescannt, zusätzlich erfassen Interviewer die Geschichte der Objekte. Danach können die Stücke wieder nach Hause mitgenommen werden. Dabei sind schon einige spannende Stücke aufgetaucht – in München ist sogar eine Postkarte von Adolf Hitler aufgetaucht, die er als Gefreiter im Ersten Weltkrieg verfasste.

Auch in Wien ist ein solcher Aktionstag geplant. Am Freitag, 1.August, können Interessierte von 10 bis 18 Uhr im ORF-Radiokulturhaus (Argentinierstraße 30a, 1040 Wien) Erinnerungsstücke rund um den Ersten Weltkrieg vorbeibringen. Damit sie nicht nur auf dem Dachboden darauf warten, dass die Staubschicht noch dicker wird.
Info: www.europeana1914-1918.eu

Bilder eines Lebens in einer Schachtel

Margarete Höfler schaut gern ihre Fotos an. Wenn ihre Tochter zu Besuch ins Seniorenheim in Wien-Leopoldstadt kommt. Oder auch gern alleine. Da ist das zerdrückte Foto, das sie im Alter von vier Jahren zeigt. „In Pinkafeld war das, im Garten“, erzählt sie. Dann ist da ein Bild, das sie beim Urlaub auf Elba zeigt, in den 1950er-Jahren muss das gewesen sein, sagt sie, mit dem Autobus fuhr sie bis Livorno, dann weiter mit der Fähre. Daneben ein Bild von ihr mit ihrer Mutter – auch irgendwann aus den 1950er-Jahren.

Margarete Höfler wurde 1936 geboren, arbeitete 35 Jahre als Köchin beim Verbund. Und lebt nun in einem Altersheim. Ihre Fotos hat sie in einer kleinen Schachtel gesammelt. Digitalisieren und archivieren? Das interessiert sie nicht besonders. Aber sie freut sich, wenn sie die Bilder anschauen kann. Als Erinnerung an früher.

Leben und Sterben eines Menschen

Es begann sprichwörtlich auf einem Dachboden. „Mein älterer Bruder hat dort Briefe gesammelt. Irgendwann hat er mir die Schachteln gegeben.“ So entdeckte Egon Bruckmann unzählige Briefe von seiner Großmutter Anna Poetzl. Darunter auch eine bewegende Korrespondenz, die das Leben ihres Sohnes Egon Poetzl dokumentierte. Da waren Zeugnisse, Dokumente, Fotos – und Feldpostkarten von der Ostfront, an die er sich freiwillig gemeldet hatte.


„Herr Leutnant verwundet.“ Da waren Karten, auf denen er schrieb, dass es ihm gut geht. Auch jene vom 6. Dezember 1916 – doch war sie mit einem Zusatz versehen, den ein Offizier darunter geschrieben hatte: „Herr Leutnant verwundet.“ Zu diesem Zeitpunkt war der 18-Jährige schon tot, erschossen an der Front. Nur seine Leiche, die fanden seine Kameraden nach dem Kampf nicht mehr. Und dann waren da noch Karten, datiert mit 7., 8. und 9. Dezember – mit Nachrichten à la „mir geht es gut“. Er hatte sie im Voraus geschrieben. Es folgten mehrere Briefe zwischen Anna Poetzl und Kameraden ihres Sohnes. Sie wollte wissen was passiert war – und gab die Hoffnung lange nicht auf, dass er noch lebte.

Bruckmann brachte die Korrespondenz zur Wienbibliothek im Rathaus. Diese widmete der Geschichte von Egon Poetzl in einem Buch über den Ersten Weltkrieg ein ganzes Kapitel. „Für meinen Onkel“, sagt Bruckmann, „eine späte Genugtuung.“

Privat

Tausche alte Filme gegen neue DVD

Das Land Niederösterreich rief dazu auf, private Filmdokumente zur Archivierung abzugeben. Dafür gab es die digitale Kopie auf DVD.

Urlaubsfilme, Aufnahmen von Hochzeits- und Weihnachtsfeiern, Einsätze der Freiwilligen Feuerwehr, aber auch ganze Gemeindechroniken und Filme aus der Nachkriegszeit. All das schlummerte jahrelang auf niederösterreichischen Dachböden. Ehe das Land ein Projekt ins Leben rief, um diese Filmdokumente für die Nachwelt zu sichern. „Niederösterreich privat“ war der Name der Initiative, die Anfang 2013 startete. Landesweit wurden die Menschen dazu aufgerufen, ihre Filmdokumente abzugeben und digitalisieren zu lassen. Und um die Motivation zu heben, versprach man den Spendern, dass sie ihre Aufnahmen digital auf DVD kopiert bekommen – natürlich kostenlos.

Bilder aus Filmen, die für „Niederösterreich privat“ digitalisiert wurden: Donauballade in der Wachau 1956; Weintest in der Wachau 1930; Narzissencorso Mariazell 1951.
Bilder aus Filmen, die für „Niederösterreich privat“ digitalisiert wurden: Donauballade in der Wachau 1956; Weintest in der Wachau 1930; Narzissencorso Mariazell 1951. Filmarchiv Austria


60.000 Filme. Eine Motivation, die offenbar wirkte. Schließlich meldeten sich allein in den ersten vier Wochen mehr als 1200 Interessierte, mehr als 15.000 Filme erwartete das Filmarchiv Austria, das die Digitalisierung erledigte. Am Ende standen sogar rund 60.000 Filme und mehr als 7000 Stunden Material. Der Andrang war so groß, dass die Spender rund ein Jahr lang auf die DVD warten mussten. Dafür können sie nun all ihre Filme bequem auf dem Fernseher anschauen statt auf den alten Filmvorführern in den Formaten Super 8, Normal 8 oder sogar im Nitrofilm-Format (35 mm). Und das Land selbst plant Präsentationsprojekte, bei denen die Aufnahmen gezeigt werden.
Info: www.noe-privat.at

Aufzeichnung

»Es ist Frühling, und ich lebe noch«
Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs in Infinitiven. Von Aufzeichnen bis Zensieren.
Von Marcel Atze und Kyra Waldner (Hg.). Residenz Verlag, 29,90 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.07.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.