Wiener radelt durch Europa: Flüchtling auf Probe

Rainer Neumüller
Rainer NeumüllerDie Presse
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Der Wiener Rainer Neumüller ist 2300 Kilometer durch Europa geradelt – ohne Geld. An seinem Ziel in London angelangt, erzählt er von seinem ungewöhnlichen Selbstversuch.

Der Wind bläst laut in den Hörer, im Hintergrund ist ein Rasenmäher zu hören. Rainer Neumüller sucht Windschutz in einem Verschlag, damit er besser reden kann: „Ich bin kurz hinter Amsterdam“, erzählt er. Vermutlich sei der Flughafen Schipol um die Ecke, und heute, sagt er, „ist der anstrengendste Tag von allen bisher“. Dabei sei es in Holland so flach, aber schuld daran sei eben der starke Gegenwind.

37 Tage war der 54-jährige Wiener unterwegs – und der Gegenwind war nicht sein größtes Problem. Am 10. Juli startete er unter Applaus von Familie und Freunden um neun Uhr früh in Wien-Währing. Entlang der tschechischen Grenze fuhr er über die bayerischen Alpen nach Norddeutschland, weiter nach Dänemark, Holland, Belgien, bis an den Küstenort Ostende, wo er mit der Fähre nach England übersetzte. Das letzte Stück nach London strampelte er dann schon ziemlich beschwingt, war doch das Ziel nah. In der Nacht auf Samstag, kurz nach Mitternacht erreichte er die britische Hauptstadt.

2300 Kilometer hat er mit seinem neongelben Rad zurückgelegt – und zwar aus einem ganz bestimmten Grund. Neumüller, früher Architekt, heute Künstler, verheiratet und Vater von zwei erwachsenen Kindern, war entsetzt vom Umgang der Europäischen Union mit dem verschuldeten Griechenland. Er sei schockiert gewesen von den Konsequenzen der Griechenland-Pleite für die Bevölkerung. „Manche Menschen hatten von einem Tag auf den anderen nichts mehr.“ Aus Solidarität mit Griechenland habe er daher ein Zeichen setzen wollen und kam auf die Idee einer Europa-Radreise. Unter dem Motto „Keep us going“ wollte er durch halb Europa radeln: „Einfach losfahren, ohne etwas zu haben. Mich in eine Flüchtlingssituation begeben.“


Smartphone für das Navi.
Neumüller fuhr also mit sehr leichtem Gepäck: Smartphone (mit Navi), Nabendynamo (um das Handy aufzuladen), Werkzeug, Regenschutz und ein paar Kleidungsstücke zum Wechseln. Neben der körperlichen Herausforderung waren die letzten sechs Wochen für den groß gewachsenen, nicht unbedingt athletischen Mann vor allem eine Übung in Demut und Abhängigkeit. Jede Unterkunft, jede Nahrungsaufnahme und jegliche andere Hilfeleistung (einmal musste er seinen rechten Ellbogen im Krankenhaus untersuchen lassen) war mit einem Bittgesuch an Unbekannte verbunden. So sei auch die wichtigste Erkenntnis für ihn: „Vom guten Willen der Menschen abhängig zu sein ist nicht einfach – und wahnsinnig anstrengend.“ Schwer sei ihm zudem gefallen, etwas zu nehmen, ohne geben zu können. Überrascht habe ihn, dass das „Um-Hilfe-Bitten“ mit der Zeit nicht leichter geworden ist.

An jedem Ort, an dem er haltmachte, musste er erneut Menschen ansprechen, ihnen erklären, warum er auf diese Weise durch Europa reise und um Lebensmittel und ein trockenes Dach über dem Kopf bitten. In manchen Regionen, etwa in Norddeutschland, hätte das besonders gut funktioniert. Er schlief in einer Garderobe von einem Sportplatz, auf einem Heuboden, auf der Couch von Wildfremden, in einem Wohnwagen, in einem Zelt, in Dänemark bot ihm jemand Platz in einem geräumigen Holzunterschlupf in freier Natur – nicht ungemütlich, bis auf die vielen Gelsen in der Dämmerung.

In Berlin schlief er bei Freunden, ebenso in Dänemark, wo er die längste Rast auf dem Vierkanthof von Bekannten machte und als Dank für deren Gastfreundschaft ein bisschen bei der Arbeit half. Seine Erlebnisse schilderte Neumüller in einem Reiseblog auf der Webseite des Kunstvereins Art 18 (www.art18.at).


Geberstaaten aufrütteln.
Neumüllers Wunsch wäre es, die Debatte über die Griechenland-Hilfe neu zu entfachen. Dem Land sollte nicht nur durch Bankenspritzen geholfen werden, sondern mit Mitteln, die der Bevölkerung direkt die Möglichkeit geben, sich aus dem Schlamassel zu befreien. Warum ist er dann nicht gleich nach Griechenland geradelt? Weil es ihm darum ging, die Geberstaaten im Norden aufzurütteln: „Den Griechen brauch ich nicht zu erzählen, wie es ihnen geht.“ Eine Fahrt durch Serbien und Bulgarien hätte nicht besonders viel Sinn gehabt. In London ruht er sich nun noch ein paar Tage bei Freunden aus, bevor er die Heimreise antritt – mit dem Zug allerdings, das habe er schon früh beschlossen. „Sonst hätte ich aufgehört.“

Denn die Reise war auch körperlich nicht ohne. An manchen Tagen legte er 120 Kilometer zurück, nicht selten ohne Frühstück im Magen. Interessant war für ihn, wie unterschiedlich sein Gegenüber auf seine Bitte nach Nahrung reagierte. Manchmal bekam er viel zu große Portionen, die nicht schaffbar waren. „Einmal hat mir jemand einen Apfel mit Inbrunst gereicht, als würde er mir die Welt zu Füßen legen.“ Hungrig war er danach immer noch. So sei er „nie auf dem richtigen Energielevel“ gewesen, was das Radeln besonders anstrengend gemacht hat. Aus Neumüllers Sicht hat sich das alles gelohnt. Er weiß jetzt in Ansätzen, was er wissen wollte: wie sich das anfühlt, ein Leben auf der Straße als Flüchtling.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.08.2014)

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