Auch in Bhutan ist Glück relativ

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Der kleine Himalaja-Staat hat das Bruttonationalprodukt durch das Bruttonationalglück ersetzt. Doch ganz so einfach sei die Sache mit dem Glück nicht, erzählt Ex-Premier Jigme Thinley.

In Klagenfurt angekommen wollte Jigme Thinley gleich die Gegend erkunden. Zu Fuß machte er sich auf zum nahen Wörthersee. Am Weg traf er lachende Pensionisten und junge Paare, die sich an den Händen hielten. Erster Eindruck des früheren bhutanischen Premierministers: Um das Glück der Österreicher scheine es ganz gut bestellt zu sein. Mitleid habe er in diesen Tagen indes mit den Schotten: „Nach dem gescheiterten Unabhängigkeitsreferendum sind jetzt sicherlich viele von ihnen unglücklich.“

Thinley war am Samstag Stargast bei einer TEDx-Konferenz in Klagenfurt. Davor begleitete ihn die „Presse am Sonntag“ auf einem Spaziergang auf dem Kreuzbergl, das den 62-jährigen Volkswirt an seine eigene Waldheimat erinnert. Zwischen Himalaja-Kiefern und Eichen steht sein kleines Holzhaus. Wenn er nicht gerade unterwegs ist, widmet er sich dort seiner Lieblingsbeschäftigung: der Gärtnerei.

Thinley gilt als Architekt des Bruttonationalglücks, des weltweit beispiellosen bhutanischen Wirtschaftsmodells. Drei Jahrzehnte lang war er enger Berater von König Jigme Singye Wangchuck. Oberste Prämisse des mit absoluter Macht regierenden Staatsoberhauptes war nicht die Vermehrung des Wohlstandes, sondern die Wahrung des inneren Gleichgewichts seiner 700.000 Untertanen. Das sah der buddhistische „Drachenkönig“ durch kapitalistisches Gewinnstreben und Ausbeutung der natürlichen Ressourcen bedroht. Aber auch durch Kabelfernsehen, Jeans und Demokratie. Alles für das Volk, aber nichts durch das Volk, lautete die Devise in der Himalaja-Enklave.

Erst in den späten Neunzigerjahren hielt der Fortschritt in Form von indischen TV-Soaps und Internet zögerlich Einzug. 2006 dankte der König zugunsten seines Sohnes ab. Der veranlasste Reformen: Seit 2008 ist Bhutan eine moderne Monarchie, Politiker werden vom Volk gewählt. Thinley wurde der erste Premierminister des Zwergstaates zwischen Indien und China, er hielt an der Glücksideologie fest. Obwohl der Lebensstandard in Bhutan niedrig und die Arbeitslosigkeit hoch ist, werden wirtschaftlichen Projekte dem Naturschutz untergeordnet. Etwa die Hälfte des Landes ist unberührt, Ressourcen werden nur abgeschöpft. Die wichtigste Einnahmequelle des Landes, der Tourismus, wird beschränkt. „Die Menschen sind nicht reich an materiellen Dingen. Aber niemand muss hungern“, sagt Thinley. „Es gibt in Bhutan keine Bettler.“

Thinley denkt lange nach, bevor er spricht. Wenn etwas seine Aufmerksamkeit erregt, dann bricht er auch mitten im Satz ab. Die Sternwarte hoch über Klagenfurt etwa hat es ihm angetan. „Hochinteressant“, sagt er. „Ein mittelalterliches Gebäude mit einem modernen Oberbau.“ So wie Bhutan, das seine jahrhundertealte Tradition mit den Anforderungen des 21. Jahrhunderts in Einklang bringen möchte.


Wunde Punkte. Nur manchmal blitzt in ihm der Politiker durch. Etwa wenn er auf die wunden Punkte des bhutanischen Glücksmodells angesprochen wird. Mitte der Achtzigerjahre wurden rund 80.000 Hindus aus dem Süden des buddhistischen Königreichs vertrieben. Menschenrechtsgruppen sprachen von einer ethnischen Säuberung, basierend auf einer Blut-und-Boden-Ideologie. Immer noch leben viele der Vertriebenen in Flüchtlingscamps an der nepalesischen Grenze. Sie hätten sich zu Unrecht in Bhutan aufgehalten, sagt Thinley: „Das waren Illegale.“ Inzwischen hätte sich allerdings das Verhältnis der Mehrheitsbevölkerung zu den rund 25 Prozent Hindus entspannt. „In Bhutan haben alle dieselben Rechte.“

Als Thinley sein Amt als Premierminister antrat, war ihm einige Aufmerksamkeit gewiss. Die Verwerfungen der Finanzkrise 2008 weckten das Interesse an alternativen Wirtschaftsmodellen, Thinley fand weltweit Gehör, wenn er die „maßlose Gier“ des kapitalistischen Westens anprangerte. Inzwischen haben sich die Finanzmärkte wieder beruhigt, Thinley wurde nach nur einer Amtsperiode abgewählt. „Ich wollte ohnehin nie Politiker sein“, behauptet er.

Nun ist er ein viel gefragter Redner, der nicht müde wird zu warnen: vor dem sozialen Ungleichgewicht, das Reiche reicher und Arme ärmer mache. Vor der gesellschaftlichen Vereinsamung in Zeiten von Facebook und Twitter: „Die Welt bricht auseinander. Die sozialen Medien sind die Folgen dieses Scheiterns, weil sie ein paar Sekunden Ablenkung gegen die große Leere bieten.“ Das aber habe mit Glück nichts zu tun.

Was aber, Herr Thinley, bedeutet nun eigentlich Glück? „Die Freiheit genießen zu können, ohne anderen dabei zu schaden. In einer Gemeinschaft aufgehoben zu sein. Menschen zu haben, an deren Tür man klopfen kann, wenn man Hilfe braucht oder reden möchte.“ Alle paar Jahre schwärmen in Bhutan Beamte aus, um mit Fragebögen das Glücksempfinden der Bürger zu erheben. Die Menschen werden gefragt, wie viele Freunde sie hätten und wie viel Zeit sie mit ihrer Familie verbringen. Der natürliche Feind des Glücks, meint Thinley, sei der Neid: „Wie man sich fühlt, hängt auch davon ab, mit wem man sich vergleicht.“ Daher sieht er auch den Einfluss indischer TV-Stationen, die die Glitzerwelt Bollywoods nach Bhutan bringen, skeptisch. Das würde bei vielen Erwartungen schüren, die sich nicht erfüllen ließen. Wer aber unglücklich sei, habe es im vermeintlichen Glücksidyll doppelt schwer, meint Thinley: „Wenn es allen anderen gut geht, fühlen sie sich besonders einsam.“

Steckbrief

Jigme Thinley (62) studierte in Delhi und Pennsylvania. 1974 formulierte er für den bhutanischen König das Konzepts des Bruttonationalglücks. Er war Botschafter, später Außenminister. Bei den ersten Wahlen 2008 wurde er Premier. 2013 wurde er abgewählt. Der Kapitalismuskritiker ist ein gefragter Redner. Bei der TEDx (Konferenz, bei der Redner kein Geld bekommen) in Klagenfurt sprach er über Ethik in der Wirtschaft.

tedxklagenfurt.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.09.2014)

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