Auf der anderen Seite der Manege

Warten auf die Besucher: Vor jeder Vorstellung begrüßt Clown Anatoli die Gäste. Vor dem Circus Roncalli war er beim Cirque du Soleil in Las Vegas engagiert.
Warten auf die Besucher: Vor jeder Vorstellung begrüßt Clown Anatoli die Gäste. Vor dem Circus Roncalli war er beim Cirque du Soleil in Las Vegas engagiert.Die Presse
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Sie bringen die Besucher mit ihrer Körperbeherrschung zum Staunen oder als Clowns zum Lachen: Viele Artisten im Zirkus ziehen seit ihrer Kindheit in kleinen Wägen von Ort zu Ort. Ein Leben zwischen hartem Training, Nostalgie und Scheinwerferlicht.

Draußen, in der Manege, ist die Welt grell und knallig: Reihen bunter Glühbirnen und riesige Scheinwerfer erleuchten das Zirkuszelt. Es riecht nach Popcorn, gebrannten Mandeln und Sägemehl, die Band spielt das Publikum mit einer pompösen, lauten Nummer in Laune.

Dahinter, nur durch den dicken, roten Samtvorhang getrennt, herrscht eine ganz andere Stimmung. Im gedämpften, blauen Licht warten die Artisten auf ihre Auftritte. Hoch konzentriert bereiten sie sich vor, jeder für sich. Gesprochen wird jetzt kaum, ruhig ist es dennoch nicht: Die Requisiteure in ihren roten Uniformen eilen hin und her, führen das Xylofon aus Glasflaschen, mit dem die Clowns eben draußen gespielt haben, hinaus, bereiten die Requisiten für die nächsten Nummern vor.

Robert Szabo vom Duo Viro wärmt sich auf dem Trapez auf, das hier gleich hinter dem Vorhang angebracht ist. Daneben stemmt ein anderer Artist ein Gewicht in die Höhe. Clown Devlin raucht noch rasch eine Zigarette vor dem Artisteneingang, die weiße Schminke im Gesicht kaschiert nicht nur den Menschen hinter der Clownsfigur, sondern auch jegliche Zeichen von Nervosität.

Geraldine Philadelphia, eine der jüngsten Künstlerinnen im Circus Roncalli, dehnt hier im Halbdunkel an einem alten Klappstuhl ihre Beine. In wenigen Augenblicken wird sie mit ihrer Reifenjongliershow die Scheinwerfer auf sich gerichtet und die volle Aufmerksamkeit des Publikums haben.

Wenn auch nur einige Augenblicke lang. Denn als Artist im Zirkus ist man einer unter vielen: Die Manege, das Publikum, den Applaus, das Lachen und Staunen hat man nur einige Minuten für sich. Dann heißt es „Manege frei“ für den nächsten Akteur.

Es ist nicht das Einzige, das die Künstler hier teilen. Sie alle führen ein Leben zwischen Zirkuszelt und Wagons, ziehen von Stadt zu Stadt, immer unterwegs, nie sesshaft. Die Welt da draußen mag sich geändert haben, Zirkusleute aber leben auch im 21.Jahrhundert so wie vor Jahrzehnten auch: Immer noch reisen sie in Wägen durch die Lande, auch wenn diese heute oft – wie im Circus Roncalli – per 750 Meter langem Sonderzug auf der Schiene transportiert werden und den einen oder anderen Komfort (von Waschmaschine bis Internet) haben.

Mehr Platz als früher haben die Künstler aber auch heute nicht: Die kleinsten Wägen sind zweieinhalb Meter breit und zwei Meter lang. Fünf Quadratmeter, auf denen ein ganzes Leben Platz haben muss. Im Circus Roncalli leben die Künstler und die anderen Mitarbeiter – insgesamt sind es rund 150 Menschen – großteils sogar in historischen Wägen, die penibel restauriert wurden und so eine große Menge Nostalgie ausstrahlen, wenn sie im Halbkreis um das Zirkuszelt arrangiert vor dem Wiener Rathaus stehen. Einige wenige der normalen Wohnwägen, wie man sie von jedem Campingplatz kennt, Satellitenschüssel inklusive, gibt es hier zwar auch. Sie sind aber so aufgestellt, dass sie für die Besucher nicht sichtbar sind. Die Illusion, die Reise der Besucher in eine andere Welt beginnt hier nicht erst im Zirkuszelt. Hier heißt es tatsächlich noch „Herrreinspaziert“ zu Drehorgelklängen, die Clowns empfangen die Besucher schon vor der Vorstellung mit den ersten Späßen.


Echte Zirkuskinder. Die Artisten hier im Circus Roncalli können mit der Frage, ob sie sich denn nie nach einem „normalen“ Leben mit fixem Lebensmittelpunkt sehnen, wenig anfangen. „Wir sind ja auch sesshaft“, sagt etwa der Betriebsleiter des Circus Roncalli mit dem wunderbaren Namen Patrick Philadelphia. „Im Winter sind wir zwei Wochen zu Hause in Köln.“ Zwei Wochen!

Philadelphia ist ein echtes Zirkuskind, das im Circus Krone geboren wurde, wo sein Vater Pferdedompteur war. So wie er selbst kennt auch seine Tochter Geraldine die Manege, seit sie klein ist. Unterrichtet wurde sie von einer Lehrerin, die mit dem Zirkus durch die Lande zieht. Auch Lili Paul, die jüngste Tochter des Roncalli-Gründers Bernhard Paul, ist noch schulpflichtig und wird neben den intensiven Proben und den Auftritten unterrichtet. Lili Paul ist mit ihren Geschwistern Vivian und Adrian und dem Artisten Jemil Martinez mit einer atemberaubend schnellen Rollschuh-Akrobatiknummer mit auf Tour.

Geraldine Philadelphia jedenfalls hat nie etwas anderes als das Zirkusleben gekannt. Einmal saß sie, wie sie ein paar Stunden vor der Vorstellung entspannt in Leggins und T-Shirt in der leeren Manege erzählt, drei Monate in einer „echten“ Realschule. Länger war sie noch nie an einem Ort. Derzeit lernt sie nebenher für das Abitur, das sie „zur Absicherung“ machen möchte. „Falls ich doch irgendwann einmal etwas anderes machen möchte“, sagt sie, und es klingt nicht so, als wäre es eine ernsthafte Alternative.

Bei der Premiere in einer neuen Stadt sei man immer ein wenig nervös, erzählt Patrick Philadelphia. Er führt elegant und imposant mit Zylinder, rotem Frack und schwarzen Stiefeln durch die Vorstellung. „Moderator“ würde man anderswo sagen, hier im Zirkus heißt das „Sprechstallmeister“. Philadelphia ist auch dafür verantwortlich, dass Pannen vom Publikum nicht bemerkt werden. Fällt etwa der Elektromotor aus, der die Trapezkünstler in die Luft hieven soll, muss er Licht und Orchester informieren und das Programm kurzfristig ändern.

Seit 18 Jahren ist er bei Roncalli, eine ungewöhnlich lange Zeit. Denn die meisten Künstler haben Saisonverträge, die maximal auf drei Jahre verlängert werden. Jedes Jahr wird ein Drittel des Programms ausgetauscht, um den Besuchern nicht immer die gleiche Show zu bieten. Insofern habe sich der Zirkusalltag verändert, erzählt die Ungarin Vivien Galovicz, die auch im Zirkus groß geworden ist. „Heute zeigt man nicht nur eine Nummer nach der anderen. Man überlegt sich eine Choreografie und erzählt eine Geschichte.“ Als Duo Viro erzählt sie mit Bühnenpartner Robert Szabo in luftiger Höhe an Tüchern eine Liebesgeschichte.

Wie im Leistungssport hat das Artistenleben allerdings oft ein frühes Ende. Im Zirkus wird man nicht alt, höchstens als Clown oder als Mitglied im Orchester. „Als Akrobat kann man bis 35, maximal 40 arbeiten“, sagt Robert Szabo (26). Und dann? Einige bilden dann den Nachwuchs aus oder werden Fitnesstrainer. Wieder andere satteln nach der Zirkuskarriere komplett um.

Die Bezahlung ist, vor allem in den großen Betrieben, heute dem Vernehmen nach nicht schlecht. Zumindest als renommierter Artist kann man gerüchteweise an die 1000 Euro pro Vorstellung verdienen. Bei zwei Vorstellungen am Tag kein schlechter Verdienst. Kommentieren will man die Zahlen bei Roncalli nicht, nur so viel: Die relativ kurze Zeit, die man im Zirkus arbeiten kann, werde bei der Höhe des Gehalts einkalkuliert.

Der Tag im Zirkus ist mit einer Nachmittags- und einer Abendvorstellung ein langer – und beginnt früh: Zwischen acht und neun Uhr gibt es Frühstück im Küchenwagen, ab neun Uhr gehört die Manege den Pferden. Danach trainieren hier die Artisten in der leeren Manege. In Jogginghosen, Shirts und Crocs. Manche erkennt man später stark geschminkt und in ihren glamourösen Kostümen kaum wieder.

Der Spanier Sergi Buka wiederum feilt in seinem winzigen Wagon an seiner nächsten Nummer. Als wunderbar altmodischer Illusionskünstler begeistert er das Publikum mit Schattenspielen, während er auf einem historischen Fahrrad Runden in der Manege dreht. „Bernhard Paul und ich, wir teilen das Faible für alte Geräte und eine poetische Art zu zaubern“, erzählt er. In rasend schnellem Spanisch und mit stets lachenden Augen erzählt Buka von seinem ersten Jahr hier im Zirkus. Das Herumziehen gefalle ihm gut. In Hamburg sei das Publikum „más tímido“ gewesen, schüchterner, zurückhaltend. Hier in Wien spüre er in der Manege viel „corazón“, viel Herz.

Pferdeflüsterer. Mittlerweile ist es kurz vor 17 Uhr, Karl Trunk ist mit seinen Pferden, der einzigen Tiernummer bei Roncalli, in Kürze dran. Trunk ist Nachfahre der berühmten deutschen Zirkusfamilie Strassburger, die seit jeher auf Pferdedressur spezialisiert ist. Ob er denn beruflich nie etwas anderes machen wollte? „Natürlich willst du als junger Bengel alles anders machen als deine Eltern“, sagt Trunk, während er zwei seiner Ponys durch den Artisteneingang führt. Habe er auch gemacht. Und was? Ein Studium? Eine Lehre? „Jongleur“, sagt er. Dann habe es ihn aber wieder zu den Pferden gezogen. Die KGB-Clowns verlassen unter viel Trara aus dem Orchester die Manege. Für Trunk das Zeichen, dass er jetzt gleich dran ist. Er dreht sich um, streichelt die Pferde, konzentriert sich für einen Moment. Dann heißt es Vorhang auf. Manege frei.

Zirkustermine

Der Circus Roncalli hat soeben sein Gastspiel auf dem Wiener Rathausplatz bis 19.10. verlängert. Weitere Stationen: Graz (24.10. bis 16.11) und Linz (21.11. bis 13.12.). Tickets: www.roncalli.at.

Der Circus Picard macht von 26.9. bis 28.9. in Krems Station, danach in Horn und Hollabrunn: www.zirkus.at.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.09.2014)

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