Mit der Kamera am Sterbebett: „Ich bin jetzt viel lebensfreudiger“

(c) FABRY Clemens
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Mit ihrer Doku über einen Sterbenden löst Filmemacherin und Therapeutin Anita Natmeßnig ein Versprechen ein. Ein Gespräch über Tod und Lust aufs Leben.

Robert Linhart war Nachrichtentechniker und lebte in einer 25-Quadratmeterwohnung in Simmering. Er war ein kräftiger, humorvoller, aber zurückhaltender Mann, der sein Leben lang stotterte. Bis Anita Natmeßnig mit ihrer Kamera kam. Vor ihr sprach er fehlerfrei und flüssig. Die beiden lernten einander 2005 im Hospiz Rennweg kennen. Wenige Monate später starb Robert Linhart mit 53 Jahren an Lungenkrebs.

Nun, neun Jahre später, sitzt Anita Natmeßnig im Café Ministerium beim Stubenring, gleich ums Eck von ihrer psychotherapeutischen Praxis, um über ihn zu sprechen. Sie hat kurze, weißblonde Haare, strahlende Augen. Man kann verstehen, warum Linhart ihr vertraut hat.

Erstmals gefilmt hatte Natmeßnig Linhart für ihren ersten Kinofilm, die Dokumentation „Zeit zu gehen“, die sie im Hospiz Rennweg drehte. Damals, erzählt sie, habe er mehrmals den Wunsch erwähnt, der Nachwelt erhalten zu bleiben. In den Wochen vor seinem Tod führte sie immer wieder Gespräche mit ihm. Bevor er starb, hatte sie ihm das Versprechen gegeben, einen Film über ihn zu realisieren.

Seither hatte die evangelische Theologin viele Ideen dafür, erledigte vorerst aber andere Projekte. Schrieb ein Buch über Adolf Holl und eines über das Hospiz, schloss ihre Psychotherapeutenausbildung ab, eröffnete 2009 ihre eigene Praxis. „Aber ich habe versprochen, das zu tun. Und in der Dimension, in der Herr Linhart ist, gibt es die Zeit nicht.“

Bewusstmachen der Endlichkeit

Nun ist der Film fertig, und er ist persönlich und nicht nur traurig geworden. Robert Linhart formuliert darin, was er der Nachwelt gern sagen möchte. „Liebe Leute, tut's nicht rauchen“, sagt er. Und dass sich die Leute mehr selber mögen sollten, „dann mögen sie auch die anderen mehr“.

Zwischendurch gönnt Natmeßnig dem Zuschauer mit U-Bahnfahrten über die Donau Verschnaufpausen, ein Entkommen aus der Enge von Wohnung und Hospiz. Zwei Jahre lang hat Adam Wallisch, Natmeßnigs bester Freund und Cutter, mit dem iPhone Aufnahmen vom Wasser gemacht. Eigentlich hat sie ja, sagt Natmeßnig, stellvertretend für Herrn Linhart ans Meer fahren wollen. Er träumte von Kreuzfahrten, gemeinsam besuchten sie die Restplatzbörse, lasen Prospekte. Natmeßnig schlug noch eine Fahrt auf der Donau vor. Es war sein letzter Ausflug, tags darauf war Linhart bettlägerig.

Eine seiner berührendsten Antworten sei jene auf die Frage nach schönen Erinnerungen gewesen. „Außer einem Skiurlaub ist ihm nichts eingefallen“, sagt Natmeßnig. „Da sind mir die Tränen gekommen. Ich selbst habe ja ein ganzes buntes Kaleidoskop an Erinnerungen . . .“

Immerhin, nachdem sie sich gemeinsam alte Dias angeschaut hatten, revidierte er seine Meinung ein wenig. In diesen Momenten merkt man Natmeßnig die Psychotherapeutin an. „Wir können die Vergangenheit nicht ändern“, sagt sie. „Aber die Sicht auf unsere Vergangenheit.“

Die sogenannten großen Fragen des Lebens, erinnert sich Natmeßnig, haben sie schon in der Schulzeit „brennend interessiert, viel mehr als das, was gerade modern ist“. Durch ihre Filme habe sie selbst viel gelernt. „Mir hilft dieses Sich-bewusst-Machen der eigenen Endlichkeit. Das kann unglaublich helfen: zu realisieren, wie wichtig es ist, unsere Träume jetzt zu leben. Aber es bedarf Mut, Kraft und Bereitschaft zu scheitern.“

Dass aus dem Sich-Trauen Kraft wächst, habe sie selbst oft erfahren. Angefangen bei der Kündigung in der Religionsabteilung des ORF, um Psychotherapeutin zu werden, bis hin zu Fallschirmsprung, Motorrad und dem eigenen Kinofilm. „Ich bin sehr viel lebensfreudiger geworden, seit ich mich mit dem Tod beschäftige. Wovor soll ich mich fürchten?“

Bei der Premiere von „Ein Augenblick Leben“ diese Woche sei viel gelacht worden. „Die Leute sind mit einem Gusto auf Leben heimgegangen.“ Linhart, glaubt sie, habe sich gefreut. „Ich glaube an eine Verbundenheit über den Tod hinaus. Ich glaube nicht, dass die Verstorbenen einfach verschwunden sind.“ Sie beobachte oft, wie sich Klienten von Verstorbenen beschützt fühlen. „Das ist keine Glaubenssache, sondern ein Erleben. Und es schafft ein Sich-eingebettet-Fühlen in einem größeren Ganzen.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.10.2014)

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