Zeugen Jehovas: "Küchengehilfe des Teufels"

Misha Anouk bei der Aufzeichnung der NDR Talk Show im Studio Lokstedt Hamburg 07 11 2014 Foto xgbr
Misha Anouk bei der Aufzeichnung der NDR Talk Show im Studio Lokstedt Hamburg 07 11 2014 Foto xgbrimago/Future Image
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Seine Kindheit und Jugend verbrachte Misha Anouk bei den Zeugen Jehovas. Kontrolliert und eingesperrt hat er sich gefühlt – bis er ausgestiegen ist.

An einem Samstagmorgen läutet es. Man wird aus dem Schlaf gerissen oder bei der Hausarbeit unterbrochen. Vor der Tür stehen eine Frau und ein Mann, die freundlich lächeln und einem etwas verkaufen wollen: die einzig wahre Religion. Sie sind Zeugen Jehovas und unterwegs, neue Mitglieder anzuwerben.

Auch Misha Anouk hat diese Touren unternommen, er ist in Wohnhäusern von Tür zu Tür gegangen und hat es „schrecklich“ gefunden. „Ich habe Stoßgebete gesprochen, dass die Tür nicht aufgeht“, erzählt er. „Der Albtraum war, wenn jemand sagte: ,Kommen Sie doch bitte rein!‘ Dann wusste ich nicht, was ich sagen sollte.“ Für Misha Anouk sind diese Touren heute Geschichte. Der 32-Jährige aus Bielefeld (Nordrhein-Westfalen) hat seine Kindheit und Jugend bei den Zeugen Jehovas verbracht und vor elf Jahren der Religionsgemeinschaft (als solche in Österreich übrigens erst seit 2009 anerkannt) den Rücken gekehrt. Er wurde ausgeschlossen, gilt als „geistig krank“, als „Küchenhilfe des Teufels“ und als „Abschaum“. „Aus der Sicht der Zeugen Jehovas bin ich der Staatsfeind Nummer eins, weil ich öffentlich Kritik übe“, sagt Anouk beim Gespräch in einem Wiener Kaffeehaus. Denn Berichte von Aussteigern sind in der Organisation gar nicht gern gesehen.

Eine „Aura der Harmlosigkeit“ hätten sich die Zeugen Jehovas geschaffen. Doch die Religionsgemeinschaft sei eine „manipulative, totalitäre Organisation“, welche die persönliche Freiheit und die individuelle Entfaltung ihrer Mitglieder unterdrücke. Literatur, Filme, Musik sind verpönt – doch genau das hat Misha Anouk angesprochen. Eingesperrt sei er gewesen, die Rolle des guten Misha habe er gespielt, bis er nicht mehr konnte. Die Organisation übe Bewusstseinskontrolle über ihre Mitglieder aus, erklärt Anouk. „Das läuft über die emotionale Schiene ab. Derjenige, der Bewusstseinskontrolle ausübt, ist dein Freund.“ Und das mache eine Abgrenzung auch so schwer. Die Menschen der Organisation sind „per se keine schlechten Menschen, sie sind vielleicht radikaler in vielen Bereichen, sie sind aber verführt worden“.

Dabei schien Misha Anouks Karriere bei der Glaubensgemeinschaft vorgezeichnet: Seine Eltern – beide Zeugen Jehovas – nahmen ihn schon im Kinderwagen zum Missionieren mit. Als Kind durfte er in Bielefeld, wo der Sohn eines Briten und einer Deutschen aufgewachsen ist, Flugblätter der Wachturmgesellschaft verteilen. Seine Kindheit bezeichnet er als glücklich und harmonisch. Mit 14 entschloss er sich, sich taufen zu lassen. Und heute hätte er wohl eine verantwortungsvolle Position innerhalb der Organisation inne, hätte er seinem „phasen- und schubweisen Zweifel“ an dem einzig wahren Glauben nicht nachgegeben.

„Ich habe lang ein Doppelleben geführt. Nach außen hin habe ich immer so getan, als ob ich ein überzeugter Zeuge Jehovas wäre.“ Er sei aber unglücklich und „regelrecht depressiv“ gewesen. 2003 verliebt er sich schließlich in eine Arbeitskollegin, die nicht bei den Zeugen Jehovas ist. „An einer Stelle, wo ich bisher immer einen Cut gemacht hatte, hatte ich dieses Mal keinen gemacht.“ Er schläft mit der Frau – und setzt so ein Prozedere in Gang, von dem er weiß, dass es mit seinem Ausschluss enden wird. „Ich hatte nicht den Mut zu sagen, dass ich nicht mehr dabei sein wollte. Ich bin über den Umweg der Sünde ausgestiegen.“

Misha Anouk muss sich einem Komitee stellen, in dem Freunde der Familie sitzen und über ihn richten. Die Schuldfrage steht von Beginn an fest, er erhält die Chance, Reue zu zeigen, die er aber verstreichen lässt. Damit ist klar: Er wird aus der Religionsgemeinschaft ausgeschlossen. Und so endet für ihn auch das Leben, wie er es bisher gekannt hat. Seine Eltern und sein Bruder brechen den Kontakt zu ihm ab, er verliert seinen Freundeskreis, ein großes Vakuum entsteht. „Diese große Lücke habe ich mit allem gefüllt, was ich vorher nicht durfte.“ Wie ein „ausgewildertes Tier, das die Freiheit nicht verträgt“, so sei er damals gewesen. Die ersten zwei, drei Jahre nach dem Ausstieg habe er all das nachgeholt, was ihm bisher verboten war. Frauen, Drogen, Alkohol im Übermaß. Den ersten Geburtstag nach seinem Ausstieg hat er groß gefeiert, denn Feste wie Geburtstage oder Weihnachten spielen bei den Zeugen Jehovas keine Rolle. Er könne sich nicht mehr an alles erinnern, was in diesen ersten Jahren passiert sei und habe „große Gedächtnislücken“.

Doch nach der wilden Zeit folgte eine lange Phase des Selbstmitleids. Als Opfer hätte er sich gesehen. Der Entzug des sozialen Umfelds sei am schlimmsten – „durch diese emotionale Erpressung erhoffen sich die Zeugen Jehovas, dass man wieder zurückkommt“. Den Eltern werden Schuldgefühle eingeredet, „meinen Bruder habe ich seit jenem Tag nicht mehr gesehen“, dem Bekanntenkreis wird der Kontakt mit einem Aussteiger verboten. Durch eine Therapie hat Misha Anouk schließlich seine „Endzeitangst“ und die Furcht vor Dämonen überwunden, Verhaltens- und Denkmuster abgelegt und den Start in ein neues Leben geschafft – das hat ihn nach Wien geführt, wo er seit zwei Jahren lebt.

Gefühl der Freiheit. Das Recht auf Glaubensfreiheit sei immens wichtig, und auch den Zeugen Jehovas stehe dieses zu. Doch genau so wichtig sei, dass man selbst entscheiden könne, ob und welchem Glauben man folgen wolle. „Diese Freiheit zu haben, das ist ein schönes Gefühl.“ Religion spielt für Misha Anouk auch heute noch eine Rolle, er hat sich für sein Buch über seine Zeit bei den Zeugen Jehovas intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt. „Ich bin nicht antireligiös, ich bin kritisch.“ Einer Religion angehören will er aber nicht mehr. „Ich habe einen humanistischen Weg gefunden. Man braucht nicht unbedingt eine Bibel, um Moralvorstellungen zu haben.“

Abrechnung

Misha Anouk: „Goodbye, Jehova! Wie ich die bekannteste Sekte der Welt verließ“ (Rowohlt Verlag): Darin erzählt der 32-Jährige von seiner Kindheit und Jugend im Schoß Jehovas – und rechnet mit der Religionsgemeinschaft ab.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.11.2014)

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