Viktor Jerofejew: "Wissen Sie: Ich bin zu 100 Prozent Russe"

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Die Ukraine-Krise hat vieles zutage gefördert, vor allem habe sie zur Enttäuschung über das Wesen des russischen Volkes geführt, meint Russlands renommiertester Schriftsteller Viktor Jerofejew. Das Land lebe mit seinen archaischen Werten nicht im europäischen Haus – auch nicht im 21. Jahrhundert. Und seine Intellektuellen in einer Illusion.

Am Ende eines dramatischen Jahres mit der Ukraine-Krise muss man fragen, was mit Russland los ist. Ihre Schriftstellerkollegin Ljudmila Ulizkaja sagt, das Land sei krank.

Viktor Jerofejew: Das war es im Lauf der ganzen Geschichte. Und in diesem Zustand hat die Krise nun den Charakter einer Konfrontation mit den Werten des Westens. Man denkt in Europa leichtfertig, Russland sei ein europäisches Land, mit dem man zurechtkommen könne, wenn die Probleme gelöst seien.


Und eigentlich . . .

. . . hat die Krise gezeigt, dass es ein Land mit anderer Mentalität, anderer Zeitrechnung und anderen Vorstellungen von Gut und Böse ist. In der Ostukraine prallen zwei Wertesysteme wie zwei Gewitterwolken aufeinander. Das westliche System seit dem Zweiten Weltkrieg steht gegen Aggression und für Befreiung des Menschen von den letzten Fesseln, die mit der archaischen Forderung eines Dienstes am Staat zu tun haben. Bei uns sieht das System modern aus, hat aber schrecklich archaische Werte.


In unserem letzten Gespräch vor vier Jahren meinten Sie, Russlands Wertesystem müsse man sich wie die Bombardierung Dresdens vorstellen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde alles zerstört. Und seither hätten die Leute begonnen, allmählich Freiheit und Wahlmöglichkeiten zu spüren.

Dieser Gedanke widerspricht dem vorherigen auch nicht. Die Werte wurden bei uns zweimal bombardiert: 1917 und 1991. Aber die archaische Wertebasis blieb erhalten. In den postkommunistischen 1990er-Jahren hat der Staat fast nichts dafür getan, dass unsere Werte sich dem Westen annähern. Es tauchten gewisse marktwirtschaftliche Verhältnisse und westliche Technik auf. Aber das Bildungs- und Erziehungssystem wurden nicht wirklich verwestlicht.


Die Annäherung, die stattfand, haben die Leute also selbst und individuell vollzogen?

Ja. Jeder hat seinen eigenen Werterucksack. Das Land ist also sehr zersplittert. Die Mittelschicht hat wohl so zu 45 Prozent demokratische Werte. Sie hat aber immer auch den Nationalismus, Imperialismus, Anarchismus oder Monarchismus in sich. Andere Schichten haben 30 bzw. nur fünf Prozent demokratische Werte. Das, wozu angesichts der Ukraine-Krise aufgerufen wurde, sind Bausteine eines nationalistischen und eines Stammesbewusstseins.


Ihrer Logik zufolge wurde also keine einheitliche nationale Wertebasis geschaffen?

Zuvor war es so, dass der Staat die Rolle des Puffers hatte. Er hat aggressive Instinkte des Volkes aus dem archaischen Bewusstsein im Zaum gehalten. Der Staat war westlicher als das Volk. Putin war liberaler als 80 Prozent der Bevölkerung. Heuer aber hat der Staat diesem Bewusstsein die Schleusen geöffnet und in der Sprache des Volkes zu reden begonnen. Die Propaganda ist in Wirklichkeit gar nicht so sehr Propaganda als vielmehr ein Dialog der Machthaber mit dem Volk auf jenem Niveau, das das Volk versteht.


Demnach ist Putin einfach Populist. Schon zuvor gefiel er der Masse als Macho. Vielleicht musste er einfach die Dosis erhöhen.

Darum geht es nicht. Die Dekoration wurde verändert. Vor den Massendemonstrationen in Russland 2011–2012 war Putin unentschlossen, weil er gewisse Verpflichtungen dem Westen gegenüber hatte. Er hat wirklich geglaubt, dass er im Westen Freunde hat. Und dann kam eine eigenartige Revolution der Mittelschicht gegen das Autoritäre. Und der Westen hat das unterstützt. In Putins Wahrnehmung aber hat ihn der Westen damit verraten. Rechnet man noch seine Kindheit in ärmlichen Verhältnissen in Petersburger Hinterhöfen dazu, nahm das Thema Verrat einen kindlichen Charakter an: Man hat mich verraten, also werde ich mich rächen. Und als der Maidan-Protest in der Ukraine begann, fasste Putin das als weiteren Verrat des Westens auf.


Russland wendet sich also von Europa ab, weil sich plötzlich die Mentalität von Volk und Machthabern decken?

Nun, diese Erscheinung mag für den Westen verwunderlich sein. Für uns ist sie es absolut nicht, wir haben sie nur vergessen. Unsere Anführer Kusma Minin und Dmitri Poscharski haben sich im 17. Jahrhundert gegen die Polen erhoben. Als Napoleon unsere Bauern befreien wollte, hat man ihn mit seinem westlichen Zeug vertrieben. Das stärkste Beispiel aber ist das Jahr 1917, denn die bolschewistische Revolution war eigentlich eine bäuerliche gegen den Westen.


Aber es sind doch jetzt andere Zeiten!

Für euch sind sie anders.


Zweimal kann man wohl nicht in denselben Fluss steigen.

Das ist eine westliche Vorstellung. Bei uns geht die Geschichte im Kreis. John Kerry hat gesagt, dass man sich im 21. Jahrhundert nicht so benimmt. Aber wer hat gesagt, dass Russland im 21. Jahrhundert lebt?


In welchem dann?

100 Kilometer außerhalb von Moskau kann man das 17. Jahrhundert sehen. Dort ist noch nicht einmal Zar Peter der Große (1672–1725) angekommen. Eine Europäisierung Russlands wurde gewaltsam oktroyiert und hat nur bei der aufgeklärten Schicht stattgefunden. Das Volk aber sieht darin den Antichristen.

Es herrscht offenbar der Wunsch, etwas Eigenes zu kultivieren. Die Hinwendung nach China ist ja wohl nur ökonomisch begründet.

Russland hatte von Anfang an mehr östliche als europäische Wurzeln. Wir haben einfach die Augen davor verschlossen, weil wir so sehr in Europa sein wollten. Das heurige Jahr ist das Jahr der großen Enttäuschung vom Volk.


Und was machen die Intellektuellen?

Die waren selbst in der Sowjetzeit westlicher als jetzt. Sehen Sie nur: Den Brief gegen die Krim-Annexion haben inklusive mir 90 Leute unterschrieben. Den Unterstützungsbrief für Putin 300, darunter Leute wie der Dirigent Gergiew.


Sie sagten, es gebe kein einheitliches nationales Wertesystem. Aber die orthodoxe Kirche scheint schon so etwas wie eine nationale Idee zu liefern. Welche Rolle spielt sie?

Im Werterucksack ist sie natürlich vorhanden. Aber man darf nicht vergessen, dass daneben auch viele heidnische primitive Werte da sind: Aberglaube, Magie, Glaube an Volksmedizin. Es herrscht ein ganz anderes Verhältnis zu Kindern, zum Leben und zum Tod. Früher dachte man, Russland sei ein großes Zimmer im europäischen Haus – gewiss, etwas schmutzig, sodass man saugen muss. Der Westen kennt Russland schlecht. Nur die Ukraine oder Kasachstan kennen Russland gut. Liest man jetzt ukrainische Zeitungen, sieht man zwar bösartige, aber treffsichere Beschreibungen des russischen Bewusstseins.


Man dachte, Russland sei ein schmutziges Zimmer im selben Haus. Was ist es wirklich?

Ein anderes Haus in der Nachbarschaft. Mit all seinen eigenen Gesetzen und Regeln. Aber eben nicht weit entfernt.


Ist die Annexion der Krim eine neue Etappe in Russlands Geschichte?

Sie ist ein Beweis, dass Russland von der Position der Stärke aus mit dem Westen kämpfen kann. Putin wusste genau, dass er ein Riesengetöse provozieren wird, wenn er die Krim annektiert. Er verstand, dass der Westen zwar verstört sein, aber nicht um die Krim kämpfen wird. Und danach würde der Westen nach einiger Zeit die Krim vergessen, und sie würde uns gehören.


Wie schnell kann sich die öffentliche Meinung in Russland ändern?

Mit den beschriebenen Werten ist ein starker Umschwung ausgeschlossen. Der Ausweg für Russland ist eine gewaltsame Europäisierung im Geist Peters des Großen. Aber das Volk wird einen solchen Anführer nicht verstehen.


Teilen Sie die Befürchtung des lang inhaftierten Ex-Ölmagnaten Michail Chodorkowski, es werde immer wahrscheinlicher, dass ein Regimewechsel blutig verlaufen werde?

Nein. Chodorkowski ist ein Utopist. So wie Ljudmila Ulizkaja (Schriftstellerin, Anm.). Diese Leute denken, dass das Übel nur bei den Machthabern liegt. Und dass man unser Volk mit Propaganda, Kommunismus und Nationalismus verblödet hat.


Ist es nicht so?

Wissen Sie: Ich bin zu 100 Prozent Russe. Daher habe ich das Recht, über mein Volk alles zu sagen, was ich will. Viele Intellektuelle sagen aber: Die, die unsere Staatsführung Verräter nennen, sind Juden wie Chodorkowksi und Ulizkaja. Und sie denken, sie hätten nicht das moralische Recht, das russische Volk zu kritisieren. Deshalb sind sie vorsichtig. Heuer ist das Jahr des Röntgens, das die Volksseele durchleuchtet hat. Wir fanden heraus, dass sie bei uns nicht europäisch ist, sondern die Aggression liebt. Putin ist dabei der Anführer, für den alle stimmen. ?

Herr Jerofejew, darf man Sie auch fragen . . .
1 . . . an welche geschichtliche Periode in Russland Sie sich im Moment erinnert fühlen?
An die Stalin-Zeit der 1930er-Jahre mit der aktiven Etablierung des moralischen Terrors. Wer nicht mit dem Regime einverstanden ist, wird als Verräter beschimpft. Als nationaler Verräter.

2 . . . ob Sie Spielraum sehen, dass die Regierung die Daumenschrauben weiter anzieht?
Ja. Mich wundert eher, dass alles noch relativ liberal ist. Wir zwei sitzen hier, und es passiert nichts Schlimmes. Aber man könnte die Grenzen schließen, den Kontakt mit Ausländern verbieten. Alles können sie.

3 . . . was es für die Bevölkerung bedeutet, wenn Russland jetzt in der Isolation landet?
Man wird jetzt einen harten nationalistischen Staat schaffen. Er kann in einem gewissen Moment explodieren, aber jetzt gibt es keine Voraussetzungen dafür. Über die Isolation aber freuen sich alle sogar. Alle sind zufrieden.

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