Nick Cave: "Unsterblichkeit ist ein Bonus"

SWITZERLAND MUSIC OPENAIR ST. GALLEN
SWITZERLAND MUSIC OPENAIR ST. GALLENEPA
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Eigentlich hält Nick Cave nichts von Musikdokumentationen – und doch ließ er sich für das Projekt „20.000 Days on Earth“ bei der Arbeit filmen. Zu sehen ist darin sein täglicher Kampf.

Nick Cave ziert sich gern. Erst verweigerte er sich den Plänen zu einem Dokumentarfilm, dann machte er bei dem Projekt „20.000 Days on Earth“ doch mit. Interviews mit ihm sind rar. Als er dann zumindest am Telefon Rede und Antwort steht, will er erst nur 20 Minuten sprechen, aber letztlich wird eine Dreiviertelstunde daraus – voller Einsichten über die Schmerzen seiner Musik, den Sinn des Lebens und die wilden Freuden der Kindheit.

Wie reagierten Sie auf den Plan, eine Dokumentation über Ihr Leben und Schaffen zu drehen?

Nick Cave: Ich sagte sofort Nein. Denn Musikdokumentationen sind generell schlecht. Ich konnte mir nichts Schlimmeres vorstellen, als so einen Film zu machen. Abgesehen davon gibt es sowieso schon so viele journalistische Geschichten über meine Person. Ich wollte mein Publikum nicht auch noch mit deren filmischer Version behelligen.

Warum willigten Sie dann doch ein?

Weil ich mit den Regisseuren bei anderen Projekten zusammengearbeitet hatte und ihnen vertraute. Ich ließ sie bei den Aufnahmen zu meinem Album „Push the Sky Away“ ins Studio, was riskant war, weil so ein kreativer Prozess sehr fragil ist. Aber meine Mitstreiter und ich vergaßen die Kameras und es entstand großartiges Material. Allerdings war meine Bedingung: Wir machen keinen Film, bei dem man mich im Alltag beobachtet, sondern etwas, was sich mit dem Konzept des künstlerischen Schaffens und des Daseins als Star auseinandersetzt. Natürlich dachte ich mir oft: Das ist völlig verkorkst, und ich werde nie erlauben, das für den Film zu verwenden. Schlussendlich ließ ich's dann zu – sogar die Szenen, wo ich mit meiner Frau im Bett liege.

Sie vergleichen sich auch mit einem Kannibalen, der das Leben anderer für seine Kunst ausschlachtet. Denken Sie das wirklich?

Ich mache die Personen in meinem Leben durch meine Songs auch in gewisser Weise unsterblich. Aber was ich meine ist, dass nichts von ihrer Existenz heilig sein darf – auch nicht bei meiner Frau. Alles muss mir als Ausgangsmaterial zur Verfügung stehen. Songs zu schreiben, ist an sich schon schmerzvoll genug, da will ich mir nicht noch den Kopf darüber zerbrechen müssen, was ich verwenden darf und was nicht.

Und Ihre Frau nimmt Ihnen das nicht übel?

Wenn ich ihr mal mit meiner Musik Verletzungen zufügen sollte, dann sind die schnell geheilt, wenn dabei ein schöner Song herauskommt. Sinnigerweise gilt das auch, wenn ich über jemand ein böses Lied schreibe – die Leute mögen das trotzdem.

Wollen auch Sie mit Ihrer Arbeit unsterblich werden? Im Film kommt auch Kylie Minogue zu Wort, die sich fragt, ob sie in Zukunft noch relevant sein wird.

Unsterblichkeit ist nicht der Zweck meiner Arbeit, nur ein Bonus. Ich versuche, in meiner gegenwärtigen Existenz Sinn zu finden. Ich habe das Gefühl, dass sie nicht real ist, solange ich sie nicht in meiner Arbeit reflektiere. Erst dadurch erwacht sie zum Leben. Zum Beispiel haben Van Goghs Sonnenblumen eine viel stärkere Wirkung auf mich als die eigentliche Blume. Musik wiederum durchdringt dich stärker als jede andere Kunstform. Sie ist sogar der Religion überlegen, weil sie sich ständig verändern kann.

Das ist also der Grund dafür, dass Sie aufstehen und sich an die Arbeit machen?

Lassen Sie es mich anders ausdrücken: Wenn ich etwas schaffe, dann weiß ich nicht, was ich tue. Ich habe keine Kontrolle darüber. Irgendwie gibt es diese merkwürdigen Stränge, die sich langsam zusammenfügen. Wenn das passiert, ist das enorm aufregend. Du denkst dir: „Ah, okay, darum geht es also.“ Aber vorher gibt es Heulen und Zähneklappern und Angst, ob es je dazu kommen wird. Doch ich muss mich darauf einlassen – ich muss versuchen, das Monster, das am Grunde unserer sichtbaren Realität liegt, an die Oberfläche zu locken.

Und was ist das für ein Monster? Ist es Gott? – Sie haben sich doch auch intensiv mit dem Christentum beschäftigt.

Das Wort „Gott“ schafft nur Verwirrung. Auch „Wahrheit“ wäre falsch, obwohl ich es im Film verwende. Mir geht es darum, andersartige, neue Bereiche zu entdecken, so kann ich Licht und Schönheit in die Welt bringen. Der Akt des Schaffens ist lebensbejahend – er hat, wenn Sie so wollen, etwas Gottgleiches an sich, selbst, wenn dein Blickwinkel mal depressiv sein mag.

Haben Sie bei dieser Entdeckungsreise auch die Antwort auf die große Frage gefunden: Warum sind wir hier?

Ich weiß nicht, warum Sie hier sind. Ich weiß, dass ich mich ständig vorwärtsbewegen muss. Es wird düster um mich, wenn ich das nicht tue. Darin besteht die Notwendigkeit meines Daseins, deshalb schreibe ich neue Songs und gehe auf Tour. Wobei ich nie weiß, ob sich das lohnt. Daher das Gefühl der Beklemmung. Aber ich habe keine andere Wahl.

Brauchen wir für unsere Selbstverwirklichung eigentlich Kunst? Immerhin erfüllt sie keinen direkten, praktischen Zweck.

Die Welt könnte vermutlich ohne sie auskommen, aber sie wäre viel ärmer. Und ich könnte in keiner Welt leben, in der ich meine Erfahrungen nicht mit meiner Vorstellungskraft interpretiere. Für mich und meine Kollegen ist Kunst so natürlich wie Atmen. In einer Welt ohne sie würde ich nicht überleben. Selbst wenn der künstlerische Impuls nicht praktisch notwendig ist, er macht uns zu Menschen.

Sie haben das Künstlerische durch Ihren Vater entdeckt, der Sie in die Weltliteratur eingeführt hat. Wäre für Sie je ein nicht kreativer Beruf infrage gekommen?

Ich würde Ihnen gerne einen Moment nennen, in dem ich an eine alternative Betätigung dachte, aber den gibt es nicht. Seit meiner Kindheit wollte ich Maler werden. Dann ging ich zu einer Band – aus dem gleichen Grund, aus dem viele Jugendliche das machen. Aber an der Kunsthochschule rasselte ich durch, und so machte ich mit der Band weiter, weil ich damals gerade eine hatte. Aber es gab nie die Option auf einen bürgerlichen Beruf für mich.

Sie haben 14-jährige Zwillingssöhne. Teilen Sie mit denen Ihre Erfahrungen und Erkenntnisse?

Ich versuche es, aber wenn ich zu Erklärungen ansetzen will, ist auf einmal das Zimmer leer. Es ist auch nicht weiter verwunderlich. Wer will schon das Geschwätz seines Alten anhören?

Im Film sind Sie aber gemeinsam bei einer privaten Film-Session zu sehen. So indifferent sind die beiden wohl doch nicht.

Ich versuche, ihnen Dinge nahezubringen, die ich mag. Als sie so zehn, elf waren, hatten wir diese Einrichtung namens „Unpassende Filmnacht“. Ich habe ihnen etwas gezeigt, das ich in ihrem Alter noch nicht hätte sehen sollen. Im Film sehen sie uns bei „Scarface“ – allerdings ist das nachgestellt. Das passierte schon früher. Aber diese Erfahrung war sehr bewegend. Es schafft große Nähe, wenn du gemeinsam etwas mit einem Kind erlebst, das noch gar nicht reif dafür ist und wenn du es für ein paar Stunden in diese schreckliche Erwachsenenwelt hineinlässt.

Gibt es einen Teil von Ihnen, der am liebsten in die Kindeswelt zurückkehren würde?

Ja, aber das hängt natürlich von der jeweiligen Welt ab. Wenn ich in meine Kindheit zurückkehren könnte, dann ja. Ich hatte liebevolle Eltern. Wir lebten auf dem Land beim Fluss, es war eine wilde Kindheit. Denn ich konnte herumwandern und in die Stadt gehen. Eine wunderbare Zeit. Ich wäre glücklich, das wieder erleben zu können.

Waren Sie damals glücklicher als heute?

Damals hatte ich kein Konzept von glücklich oder unglücklich. Das Leben war, wie es eben war. Ich war einfach nur frei.

Freier als heute?

Das ist überhaupt kein Vergleich.

Steckbrief

Nick Cave (geb. 1957 in Warracknabeal, Australien) arbeitet als Musiker, unter anderem mit seiner Band The Bad Seeds, Dichter, Schriftsteller, Drehbuchautor und Schauspieler.

Am 6.Februar kommt seine autobiografische Pseudodoku
„20.000 Days on Earth“ in die Kinos.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.02.2015)

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