Es trotzdem schaffen, und nicht deswegen

Karlheinz Töchterle mit seinem Vater in der Schmiede. Das Bild wurde für „Life“, das legendäre US-Fotomagazin, gemacht, vermutlich für eine Reportage über die Nachkriegszeit in Österreich. Die Familie hat den Artikel nie zu sehen bekommen.
Karlheinz Töchterle mit seinem Vater in der Schmiede. Das Bild wurde für „Life“, das legendäre US-Fotomagazin, gemacht, vermutlich für eine Reportage über die Nachkriegszeit in Österreich. Die Familie hat den Artikel nie zu sehen bekommen. privat
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Es gibt sie, die Erfolgsgeschichten von Menschen mit schlechter Ausgangsposition. Aber es sind Einzelfälle. Bei der sozialen Mobilität ist Österreich international weit abgeschlagen.

Der Sohn eines Bauarbeiters, der Bundeskanzler wird. Das Mädchen, das in einer Pflegefamilie aufwächst und Karriere als Fernsehjournalistin macht. Der Sohn eines Schmieds, der Wissenschaftsminister wird. Der Sohn einer Alleinerzieherin, der als Schauspieler reüssiert. Es gibt sie, die Erfolgsgeschichten von Menschen, die es, ohne von ihrer Herkunft her privilegiert zu sein, nach oben schaffen.

»Kann es jeder nach oben schaffen? «

Jeder kennt jemanden, der finanzielle, geografische, soziale Grenzen gesprengt hat und nun besser lebt, als die eigenen Eltern es vermochten. Man kann erfolgreich sein, möchte man meinen, mit Talent und Fleiß seinen Weg gehen und nicht vorbestimmt bleiben von seinem ursprünglichen Umfeld. In Österreich, mit geförderten Kindergärten, guten öffentlichen Schulen, dem weitgehend offenen Universitätszugang, müsste soziale Mobilität, wie Wissenschaftler das Überwinden von gesellschaftlichen Stufen nennen, keine allzu schwierige Sache sein.

Die Erfolgsgeschichten sind jedoch nicht repräsentativ. Es sind Geschichten von Menschen, die es trotzdem und nicht deswegen geschafft haben. Weil sie Eltern, Lehrer, Freunde hatten, die ihre Talente entdeckten und förderten. Weil sie gute Schüler waren, bald auf eigenen Füßen standen. Weil sie mithilfe von Büchern und Fernsehen früh ein Fenster zur Welt entdeckten. Und weil sie Glück hatten. Denn die Statistiken zeugen von einer Wirklichkeit, in der eben nicht alles möglich ist, nur weil man es will.

Knackpunkt bei der Überwindung von sozialen Grenzen ist der Grad der Bildung: Sie ist untrennbar mit Einkommen und in weiterer Folge mit Lebensstandard verbunden. Bildung wird von Eltern an die Kinder vererbt, das ist eine von internationalen Studien belegte Tatsache. In welchem Ausmaß dies aber zutrifft, variiert von Land zu Land beträchtlich. Österreich befindet sich im internationalen Vergleich auf einem der hintersten Plätze, wenn es darum geht, einen höheren Bildungsweg als ihre Eltern einzuschlagen.

In den Worten des Wissenschaftlers klingt das so: „Die Übertragung von Bildungsvermögen der Eltern auf das ihrer Kinder ist sehr stark. Die Abhängigkeit vom Elternhaus ist in Österreich extrem.“ Wilfried Altzinger lehrt am Institut für Makroökonomie der WU-Wien, sein Forschungsschwerpunkt ist Verteilungstheorie. Sein Urteil ist hart: „Kinder bekommen in Österreich nicht die gleichen Chancen, ihr Leben zu meistern.“ Das überrascht, wenn man an das umfangreiche verfügbare Bildungsangebot denkt. Die Zahlen sprechen dennoch für sich: Kinder aus Akademikerfamilien erreichen zu 54 Prozent selbst einen Universitätsabschluss. Von Kindern, deren Eltern maximal die Pflichtschuljahre absolviert haben, beenden nur sechs Prozent ein Studium.

Das Bildungsniveau in Österreich hat sich in den vergangenen Jahrzehnten zwar verbessert, dennoch haben vor allem die skandinavischen Länder eine weitaus bessere Bilanz vorzulegen. Was läuft bei uns schief? Altzinger sieht die Hauptursache in Versäumnissen bei der frühkindlichen Bildung. Kinder aus einem bildungsfernen Umfeld müssten noch vor dem Volksschulalter erreicht werden. „Die Unterschiede in der kognitiven und sozialen Entwicklungvon Kindern, die sie im Alter von sechs Jahren erreicht haben, setzen sich laut Studien über das ganze Leben hin fort.“

Familiäre Defizite könnten durch öffentliche oder private Bildungseinrichtungen kompensiert werden, je früher, desto besser. Bei der Betreuung von Ein- bis Dreijährigen liegt Österreich aber im Vergleich weit abgeschlagen. Doch der bloße Besuch eines Kindergartens oder einer Vorschule bringt auch nicht viel, wenn die Qualität der Betreuung nicht stimmt. Altzinger sieht mehrere Anforderungen, die nicht gewährleistet sind: hohe Qualifikation des Personals und kleinere Gruppen von Kindern pro Betreuer. „Es müssen Bildungs- und keine Aufbewahrungsstätten sein.“ Mit dem derzeitigen Angebot würden gerade jene Kinder, die Förderung bräuchten, de facto nicht erreicht. Nur eine hohe Bildungsinvestition in die Vorschulzeit könnte sozial Schwachen die gleichen Chancen eröffnen. „Präventivmaßnahmen sind wichtiger als Reintegrationsmaßnahmen.“

Dass im individuellen Fall nicht alles verloren sein muss, wenn nicht früh gezielte Förderung stattgefunden hat, zeigt allerdings der Werdegang von Claudia Reiterer. Die ORF-Journalistin, die in einer steirischen Pflegefamilie im Arbeitermilieu aufgewachsen ist, hat erst auf dem zweiten Bildungsweg ein Studium absolviert (siehe Porträt rechts). Sie spürt aber immer noch, dass es auch unter Akademikern Abstufungen gibt. „Mir wird immer wieder klargemacht, dass ich zwar viel erreicht habe, aber nicht überall dazugehöre.“ Denn gesellschaftlich sei die „vererbte Bildung“ ausschlaggebend, nicht die erworbene. „Ich habe schon als Jugendliche klassische Musik gehört und mehr gelesen als viele andere, aber das zählt nicht.“

Kann es sein, dass die Elite gar kein großes Interesse daran hat, dass es in ihrem Umfeld enger wird? Diese These ist zumindest wissenschaftlich nicht zu erhärten. „Breite Bildung ist für alle Interessenvertretungen von Vorteil“, sagt Altzinger. Auch Höchstvermögensbesitzer und Unternehmer könnten nur mit qualifiziertem Personal effizient arbeiten. Von Chancengleichheit würden daher alle profitieren.

Ex-Bundeskanzler Alfred Gusenbauer will nie am eigenen Leib gespürt haben, nicht dazuzugehören. Einen gewissen „Dünkel“ konstatiert er dennoch, als mit den 1970er-Jahren Arbeiterkinder vermehrt an die Mittelschulen kamen. „Das haben viele nicht gern gesehen, die meinten, am besten reproduzieren sich die Klassen, so wie sie sind. Lehrerkinder werden wieder Lehrer und Ärztekinder wieder Ärzte.“

Eines zeigen die hier skizzierten Erfolgsgeschichten in jedem Fall: Es ist in Österreich möglich, seinen Weg zu gehen, auch wenn einem Bildung nicht in die Wiege gelegt wurde. Aber es bleibt die Ausnahme, wenn einem nicht an wichtigen Abzweigungen die richtigen Menschen die Hand reichen. Die öffentliche Hand allein reicht nicht.

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