Auschwitz: Feingold muss weitererzählen

POLAND MARCH OF THE LIVING
POLAND MARCH OF THE LIVING (c) APA/EPA/STANISLAW ROZPEDZIK
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Tausende Jugendliche aus aller Welt, allein 400 aus Österreich, marschierten im NS-Vernichtungslager gegen Intoleranz und Entmenschlichung. Dabei waren auch Holocaust-Überlebende wie der 101-jährige Marko Feingold.

Auschwitz. Rosa Ehrlich, Alter: 8. Josef Edelstein, Alter: 5. Ruth Brenner, Alter: 4. Sara Finkelstein, Alter: 8. Über die Lagerstraße von Auschwitz-Birkenau hallt ein Kindername nach dem anderen. Ein karger Tribut an die Toten, und doch ist es unmöglich, an diesem bewölkten Spätnachmittag alle Ermordeten zu würdigen, auch wenn sich der Vorleser noch so kurz fasst. 220.000 jüdische Kinder starben in den Todesfabriken von Auschwitz. Was wäre aus ihnen geworden, aus ihren Kindern und Enkelkindern?

Israel Meir Lau, ein 77-jähriger Rabbiner, schart vor einer KZ-Holzbaracke Jugendliche um sich und deutet auf ein grobkörniges, vergrößertes Schwarz-Weiß-Foto. „Seht ihr den uniformierten Mann, der mit dem Daumen nach rechts deutet?“, fragt er mit kräftiger Stimme. „Das ist Josef Mengele. Und wen er auf die rechte Seite schickt, der muss in die Gaskammer.“

900.000 Menschen wurden gleich nach ihrer Ankunft in Auschwitz, nach ihrer Entladung aus Viehwaggons, auf der Rampe von Ärzten wie Mengele aussortiert und in den Tod geschickt. Die Todgeweihten trieb man in die Gaskammern, zwängte 2000 Menschen nackt in einen 210 Quadratmeter großen Raum. „Zum Bade“ stand auf Schildern. Doch aus den Brausen kam Zyklon-B. Ungefähr ein Viertel der Deportierten, die etwas Kräftigeren, kamen ins Lager zur Zwangsarbeit, auch das ein Todesurteil für mindestens 200.000.

In den Ausstellungsräumen des Stammlagers lässt sich die Dimension des Grauens erahnen. Hinter Glasvitrinen türmen sich Brillen, Bürsten, Rasierpinsel, Schuhe, Kinderschuhe, Prothesen, Koffer, Geschirr, Schuhcremedosen und tonnenweise Haare. „Klara Sara Fochtmann, Wien II, Tandelmarktgasse 17/3“ steht auf einem der Koffer in großen weißen Buchstaben geschrieben.

Die Nazis verwerteten auch noch die Körper ihrer Opfer, verkauften deren Haare an deutsche Firmen, die daraus Garn und Filze herstellten. Jüdische Sonderkommandos mussten den Vergasten die Goldzähne herausbrechen, die Leichen zu den Verbrennungsöfen karren. Und die Asche warfen die Nazis in die Weichsel oder streuten damit im Winter die Lagerwege. An den Schaukästen ziehen Karawanen von Jugendlichen in blauen Windjacken vorbei. Ein Mädchen aus Mexiko weint, sie erträgt diesen Anblick nicht, fasst eine Freundin an der Hand.

Sie ist nicht allein. Tausende sind nach Auschwitz gereist, um am „Marsch der Lebenden“ teilzunehmen. Sie kommen aus allen Himmelsrichtungen: aus Argentinien, Mexiko, Panama, Südafrika, Kanada, den USA, Israel, Großbritannien, Ungarn, Deutschland, vorwiegend Juden, aber nicht nur. Auf den Lagerstraßen von Auschwitz drängen sich die Besucher, manche sitzen auf dem Boden, stärken sich vor dem Abmarsch noch mit Sandwiches aus Styropor-Lunchboxen.

Aus Österreich sind ungefähr 400 Schüler angereist. Einer von ihnen ist Felix Popper, 16, er besucht das Bundesoberstufenrealgymnasium Wiener Neustadt. Seine Großeltern mussten vor den Nazis flüchten, bis nach Ecuador. „Auch wenn es schlimm ist – es ist gut, das alles zu sehen, um es zu begreifen. Damit es nicht mehr vorkommt“, sagt er. Seine Kollegen aus den siebten Klassen des Theresianums und des Wiener Rainergymnasiums nicken, die meisten sind nicht jüdisch.

„Stolz“ auf österreichische Delegation

„Erinnerungskultur ist ein Bildungsauftrag, gerade auch für Österreich“, sagt Unterrichtsministerin Gabriele Heinisch-Hosek. Auch sie ist nach Auschwitz gekommen, hat sich demonstrativ die blaue Regenjacke mit dem Davidstern übergestreift, die fast jeder trägt beim „Marsch der Lebenden“. Die SPÖ-Politikerin ist einer Einladung von Oskar Deutsch, dem Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien, gefolgt. Gemeinsam mit ihm und dem zweiten Nationalratspräsident, Karl-Heinz Kopf (ÖVP), wird sie bei der Abschlusszeremonie das Podium erklimmen und ein Gedenkfeuer entfachen. Auch die Chefin der Grünen, Eva Glawischnig, gehört der österreichischen Delegation an. Kein anderes Land ist derart hochkarätig vertreten. Das erfüllt ältere Juden, die hergekommen sind, mit Genugtuung und Stolz. Aber eine Dame macht sich gleich auch Sorgen, dass es den Politikern schaden könnte.

„Marschiert gegen die Intoleranz und die Entmenschlichung an diesem verfluchten Ort, an dem 1,1 Millionen Menschen ermordet wurden“, donnert Shmuel Rosenmann, der Organisator des Marsches durchs Mikrofon. Der Schofar, das geschwungene Widderhorn, erklingt, und der endlose Zug setzt sich in Bewegung. Durch das Tor von Auschwitz, über das die Nazis „Arbeit macht frei“ geschrieben haben, bis ins drei Kilometer entfernte Birkenau, entlang der rostigen Schienen, auf denen einst Viehwaggons voller Juden zum Vernichtungslager rollten.

Die Stimmung changiert: ernst, traurig, aber irgendwie auch heiter. Die Jugendlichen zelebrieren ihr Zusammengehörigkeitsgefühl, haken sich unter, legen die Arme um die Schultern ihrer Nachbarn. Viele von ihnen sind in israelische Fahnen eingewickelt, die Mexikaner ebenso wie Südafrikaner und Niederländer. Israel ist ihr Anker, ihr Zufluchtsort. Das machen die Lebenden deutlich auf dem größten Friedhof der Juden. Sechs Fackeln werden bei der Abschlusszeremonie in Birkenau entzündet, die letzte „zu Ehren von Israel, wo das jüdische Volk nach der Shoah wiedergeboren wurde.“

„Wenn wir Einigkeit ausgedrückt haben im Sterben, warum können wir das nicht auch im Leben. Wir sind eine Nation“, ruft Israel Meir den jüdischen Lebenden zu. Er war acht Jahre alt, als sich 1945 die Tore des KZ Buchenwald für ihn öffneten, emigrierte nach Israel und stieg zum Oberrabbiner auf.

Ein 101-Jähriger erzählt und liest Leviten

Auch Marko Feingold überlebte. Vor einer Baracke am Rande des Vernichtungslagers spricht er zu Schülern aus Österreich. Der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde in Salzburg ist 101 Jahre alt, und es hat den Anschein, als hätte er mit spätestens 75 beschlossen, nicht mehr zu altern, so konzentriert und schlagfertig agiert er. Die österreichische Honoratiorengruppe ignoriert er zunächst, beantwortet lieber weiter die Fragen der Jugendlichen. Erzählt, wie er und sein Bruder in Auschwitz kahl geschoren wurden, wie er die Schläge ertrug, sich am Eichelkaffee wärmte, frierend auf dem Appellplatz stand. Erzählt, wie er hungern und schuften musste, bis ihm die Gedärme aus dem Leib hingen, wie er 1941 nach Neuengamme, Dachau und schließlich nach Birkenau transferiert wurde, wie sein Bruder ermordet wurde – und wie es weiterging in Österreich nach 1945.

Zwischendurch wendet sich Feingold den österreichischen Politikern zu. „Ah, wen haben wir denn da?“, ruft er. „Muss ich euch wirklich schildern, was Dr. Karl Renner getan hat? Wisst ihr das nicht?“. Und dann wirft er dem ersten sozialdemokratischen Chef der provisorischen Regierung nach 1945 vor, die KZ-Häftlinge aus Buchenwald daran gehindert zu haben, nach der Befreiung nach Wien zu kommen. „Wir sind nach 1945 nicht mit Schokolade begossen worden“, sagt er, bevor er freundschaftlich Heinisch-Hosek, Deutsch und Kopf das Wort überlässt. Aber nur kurz. Feingold muss den Jungen weitererzählen. Denn er ist einer der letzten Zeitzeugen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.04.2015)

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