Philosophin: "Nach dem Fünfziger bin ich sehr glücklich geworden"

Die Philosophin und Autorin Susan Neiman liest am 27 05 2015 in Koeln der 3 phil COLOGNE das intern
Die Philosophin und Autorin Susan Neiman liest am 27 05 2015 in Koeln der 3 phil COLOGNE das internimago/Horst Galuschka
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Die Philosophin Susan Neiman hat ein Buch über den schlechten Ruf des Erwachsenseins geschrieben.

Wieso tun wir uns heute mit dem Erwachsenwerden schwerer als früher?

Susan Neiman: Weil wir kein anziehendes Bild vom Erwachsenwerden haben. Wir bekommen völlig widersprüchliche Botschaften. Einerseits bekommen junge Menschen gesagt, sie sollten schon mit 25 Jahren an die Pension denken. Andererseits wird Menschen spätestens ab 40 gesagt, sie sollten möglichst jung aussehen und sich auch so verhalten. Das sieht man auch an den Komplimenten, die wir geben. Wir sagen: „Du siehst aber viel jünger aus, als du bist“ – statt: „Du siehst gut aus.“ Wir setzen jung automatisch mit weltoffen, lebendig und lebensfroh gleich. Junge Menschen bekommen so ständig die Botschaft, dass die jungen Jahre die besten Jahre ihres Lebens sind. Das ist eine Verklärung. Denn die Zeit zwischen 18 und 25 ist oft eine harte Zeit. Und natürlich schwingt immer mit: Es wird alles noch schlimmer, also bitte erwarte nichts.

Es macht den Eindruck, dass Jugendliche früher kaum erwarten konnten, selbstständig und frei zu sein. Heute hingegen verlängern viele ihre Jugend, leben noch lange bei den Eltern. Früher hat man sich auf den 18. Geburtstag noch gefreut.

Auf 18 freut sich jeder, weil damit bestimmte Privilegien verbunden sind. Aber Entscheidungen in diesem Alter fühlen sich sehr schicksalhaft an: jede Liebesbeziehung, die Wahl des Studiums oder des Berufs. Man lernt erst später, dass man auch Fehler machen und sich irren kann. Vor dem 18. Jahrhundert hat sich die Frage kaum gestellt. Da war das Leben ziemlich vorgegeben und festgelegt. Man hat in der Regel getan, was Vater und Mutter getan haben. Erst mit der Aufklärung gab es Möglichkeiten für Abweichungen. Ich finde es bezeichnend, dass zwei so unterschiedliche Philosophen wie Kant und Rousseau das Erwachsenwerden problematisiert haben. Mit der Figur des Peter Pan wurde erstmals in der Literatur jemand heroisiert, der nicht erwachsen werden will. Aber auch die Figur des Peter Pan hat sich verändert. Im Original aus 1911 sind die Erwachsenen nur langweilig, am Ende des Jahrhunderts waren sie lächerlich.

Was genau ist denn Erwachsensein – worin manifestiert sich dieser Zustand?

Ich halte nichts vom Erwachsensein, weil das würde bedeuten, dass man nicht mehr weiterwächst. Im besten Fall hört das Erwachsenwerden nie auf. Erwachsenwerden ist die doppelte Fähigkeit, die Welt zu sehen, wie sie ist, und sich keine Illusionen zu machen. Und andererseits den Blick dafür zu behalten, wie sie sein könnte und sein soll. Es ist schwierig, da eine Balance zu halten. Erwachsensein hat nur bedingt damit zu tun, ob man mit den Eltern lebt oder einen Führerschein besitzt.

Wie können Eltern Kindern Freude am Erwachsenwerden vermitteln?

Man sollte versuchen, sein eigenes Leben so zu gestalten, dass die Kinder sehen: Das ist etwas Begehrenswertes. Dass es schön ist, Entscheidungen zu treffen und Möglichkeiten wahrzunehmen. Wichtig ist, Kinder von Anfang an ernst zu nehmen, sowie die Bereitschaft, von den Kindern zu lernen.

Welche Jugend hilft besser, sich auf das Erwachsenwerden vorzubereiten: eine behütete oder eine komplizierte?

Darauf hat die Psychologie keine Antworten. Es gibt Kinder, die aus exemplarischen Verhältnissen stammen und dadurch irgendwie schwächer sind und selbst nicht so viel aus dem Leben machen. Und umgekehrt gibt es Kinder, die in schwierigen Verhältnissen aufwachsen und einiges aus ihrem Leben machen. Sind die Umstände zu schwierig oder traumatisch, kann das manchmal auch nicht funktionieren.

Wie haben Sie Ihre drei Kinder auf das Erwachsenwerden vorbereitet?

Ich habe in bestimmten Phasen unter meiner Machtlosigkeit gelitten. Die Welt, in die ich meine Kinder hineingesetzt habe, hat Grenzen. Es ist mir nie gelungen, eine Schule zu finden, mit der ich richtig zufrieden war. Es gab höchstens gelegentlich gute Lehrer. Und das waren jene Lehrer, denen man anmerkt, dass sie das, was sie tun, lieben, und Kinder lieben. Sonst habe ich versucht, zu kompensieren, wo es ging. Ich habe meinen Kindern lange vorgelesen und bestimmte Gespräche immer wieder geführt. Meine Kinder haben an meinem Leben teilgenommen.

Sie schreiben, Reisen sei – neben Arbeit – ein entscheidender Bestandteil der Bildung, tauge aber nicht für jeden. Warum nicht?

Prinzipiell taugt es für jeden, wenn man es richtig macht. Es ist auch für jeden möglich, ohne viel Geld. Nicht nur, um etwas über andere Menschen und Länder zu erfahren, sondern über sich selbst.

Wollten Sie gern erwachsen werden?

Ich bin noch dabei. Man kommt in ein Alter, in dem weniger Zeit bleibt. Aber ich habe relativ unkonventionell gelebt und Dinge gemacht, über die andere gesagt hätten: Das macht man nicht mehr. Nach dem Fünfziger bin ich sehr glücklich geworden. Ich hatte das Gefühl, ich weiß, wer ich bin, was ich kann, was ich will.

Das heißt, das war die beste Zeit Ihres Lebens?

Das kann ich noch nicht sagen. Es kann auch sein, dass sie noch kommt. Aber das letzte Jahrzehnt ist wahrscheinlich das Beste gewesen bis jetzt. Das glücklichste und das interessanteste.

Steckbrief

Susan Neiman,
geboren 1955 in Atlanta (Giorgia, USA) als Tochter einer Bürgerrechtlerin. Sie studierte in Berlin und Harvard und promovierte über Immanuel Kant. Seit 2000 leitet Susan Neiman das Einstein-Forum in Berlin-Potsdam.

Sie publizierte Bücher wie „Das Böse denken“, „Moralische Klarheit“ und zuletzt „Warum erwachsen werden?“ (Hanser). Die dreifache Mutter lebt in Berlin-Neukölln. Bettina Volke

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.07.2015)

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