Airan Berg: "Man kann kein netter Besatzer sein!"

Airan Berg (Archivbild)
Airan Berg (Archivbild)Michaela Bruckberger
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Stadtanimator Airan Berg erzählt von seinem Beruf, seiner Liebe zum Theater – und von Israel. Er wurde in Tel Aviv geboren, wuchs in Wien auf und lebt heute in Istanbul.

Was macht ein Stadtanimator?

Airan Berg: Er animiert. In den vergangenen Jahren habe ich mich unter anderem mit Bürgern und Bürgerinnen beschäftigt, etwa in Lecce auf der Halbinsel Salento in Süditalien. Wir haben die Menschen gefragt, was ihnen an ihrer Stadt gefällt, was ihnen nicht gefällt, wie sie ihre Stadt verändern wollen. Wir haben einen Diskurs gestartet und Projekte begonnen, in Politik, Wirtschaft, Kultur – und in der Ökologie. Es geht um Partizipation und Inklusion, um den Abbau von Barrieren. Man animiert die Leute, einander wahrzunehmen, ihr Potenzial zu erkennen, etwas gemeinsam zu machen. Normalerweise werden wir ja nicht gefragt, wir wählen Repräsentanten und die machen dann nicht, was sie versprechen.

Was wünschen sich die Leute?

Bildung. Alle sagen, das Lernen muss sich verändern und auch die Institutionen – und sie haben gute Ideen, wie man das machen könnte. Mich hat überrascht, wie viele Menschen sich engagiert haben. In Lecce haben wir Tools kreiert, mittels derer die Bevölkerung über das Internet Entscheidungen der Stadt verfolgen und beeinflussen kann. Wenn 14000 Menschen zusammenarbeiten, hat das eine Kraft.

Mir scheint eher, politisch wächst die Wut. Die Rechten werden stärker – in Österreich, aber auch Italien war Jahrzehnte geprägt von Silvio Berlusconi, einem Rechtspopulisten. In Süditalien ist die Wirtschaftslage schlecht. Was kann da die Kultur bewirken?

Es geht nicht nur um Kultur. Wir müssen mehr tun, selbst etwas anpacken. Ich bin ein Optimist und glaube an Veränderung. Menschen müssen in Prozesse integriert werden, sie müssen ernst genommen und es muss Vertrauen aufgebaut werden. Das Problem ist doch, dass zwischen Politik und Gesellschaft überhaupt kein Vertrauen mehr besteht. Die Prozesse, die wir angestoßen haben, sind fragil. Und es ist richtig. Süditalien ist komplett verarmt. Aber es gibt einen großen Hunger nach Veränderung – und ganz klar positive Impulse.

Welche?

In Süditalien gibt es viele Festivals, von Mai bis September ist schönes Wetter, jedes Dorf hat ein Barock-Ensemble. Freunde von mir machen dort ein Jazz-Festival, auf dem große Stars für wenig Gage auftreten. Das Budget beträgt nur 30.000 Euro, und die kommen nicht einmal in bar, sondern in Sachleistungen von Hotels, Restaurants. Dieses Festival hat 100.000 Besucher! Ich habe meine Freunde gefragt, warum sie nicht von jedem Besucher wenigstens einen Euro nehmen, dann hätten sie 100.000 Euro. Sie haben Nein gesagt. Ich behaupte jetzt nicht, dass so etwas der Idealzustand ist, aber die Geisteshaltung finde ich einfach positiv.

Wovon leben die Mitarbeiter des Festivals?

Manche haben Jobs. Ich habe auch ein Projekt in Zagreb gemacht, als Nächstes kommt Athen. Veränderung ist immer gut, wenn man sie mit anderen macht. Man muss Bewegungen schaffen, Ownership ist wichtig, dann sind die Menschen auch bereit, viel Arbeit und Zeit zu investieren, und allmählich kommt es zu einer Transformation.

Können Sie vom Städteanimieren leben?

Ja, und sehr gut. Aber mir war Geld nie so wichtig.

Sie sind weite Wege gegangen. Sie wurden in Tel Aviv geboren, sind mit elf Jahren nach Österreich gekommen. Ihr Vater hat die Jaffa-Orangen nach Wien gebracht. Jetzt wohnen Sie in Istanbul, wie erleben Sie diese teils westliche, teils explosive Stadt?

Wir sehen die Verwandlung eines säkularen Staates in einen Staat, in dem sich Religion und Politik vermischen. Die türkische Gesellschaft hat Militärdiktaturen erlebt und erlitten, die jetzige Autokratie ist von anderer Art. In der Türkei gibt es aber auch große Minderheiten von Griechen, Armeniern, Christen, Juden. Ich glaube, der Kulturkampf wird sich noch einmal verstärken. Man spürt ihn in allen Lebensbereichen, meine Frau ist Physiklehrerin. Früher war Religion nicht Teil des Unterrichts, jetzt schon, dadurch reduzieren sich andere Fächer. Die Türkei ist ein großes Land mit einer großen Landbevölkerung. Es gibt eine türkische Kultur, die vom Islam geprägt ist, aber auch türkische Traditionen, die auf dem Land stärker sind als in den Städten – und Nationalismus. Die großen Städte sind liberaler, aber auch gespalten.

Wenn es in der Türkei zu bedrohlich wird, wo werden Sie hingehen?

Letztendlich geht es darum, einen guten Ort für meine Frau und unsere Tochter zu finden, die ich adoptiert habe bzw. zuerst hat sie mich adoptiert, sie war damals elf, jetzt ist sie 17.

Wie ist es Ihnen gelungen, das Mädchen zu gewinnen?

Mit Respekt und Partizipation. Sie hat immer an allen unseren Entscheidungen teilgenommen.

Was bedeutet Israel für Sie? Wird es jemals Frieden geben? Es sieht nicht danach aus.

Es gibt ein wunderbares Stück von Hanoch Levin. Er starb 1999, er ist der wichtigste israelische Theatermacher. Er hat ein Drama geschrieben, das „Murder“ heißt. Es handelt von dem endlosen Zyklus der Gewalt zwischen Israel und den Palästinensern. Levin war Soldat im Sechstagekrieg 1967. Er hat gewarnt, die besetzten Gebiete müssen zurückgegeben werden, weil sie das Land von innen kaputtmachen.

Ist das auch Ihre Meinung?

Ich glaube, dass man der Logik von Besatzung nicht entgeht. Man kann kein netter Besatzer sein. Ich habe den Wehrdienst verweigert. Sie wollten mich zurückholen, damit ich ihn absolviere. Dadurch konnte ich viele Jahre nicht nach Israel einreisen. In diesem Stück von Hanoch Levin gibt es einen Terroranschlag, eine Frau erscheint auf der Bühne und sagt: „Lieber Gott, schenk uns zwei Minuten Schweizer Langeweile!“ Diese Sehnsucht haben die Israelis seit der Staatsgründung im Jahr 1948.

Viele Palästinenser vielleicht auch.

Sicher.

Warum gibt es dann keinen Frieden?

Die Ursache ist die Politik – und die Angst. Israel wurde von Holocaust-Überlebenden aufgebaut. Es gab diese Performance von David Maayan, „Arbeit macht frei“, die auch bei den Wiener Festwochen zu sehen war. Maayan sagt, Israel ist von seiner Definition her ein säkularer Staat, aber die Staatsreligion ist der Holocaust, er prägt heute noch die jungen Leute. Mit sechs Jahren habe ich diesen Satz „Werft sie ins Meer!“ (die Israelis, Anm. der Red.) im Radio gehört, so etwas vergisst man nicht.

Sie haben als Puppenspieler und Theatermacher begonnen, Sie hatten Festivals in Wien wie Die Macht des Staunens. Was hat Sie in Ihrer Kunst beeinflusst?

Martina Winkel und ich waren auf Bali und haben dort Puppentheater studiert, sie hat sich mit Schattentheater beschäftigt, ich mit Masken. Ich mag Geschichten aus dem asiatischen Raum und aus Indien.

Was mögen Sie heute am liebsten im Theater?

Ich habe am New Yorker Broadway begonnen, bei Harold Prince, dem bekannten Musical-Produzenten und Regisseur, ich war sein Assistent und habe nichts verdient. Aber ich bin auch in der alternativen Szene zu Hause. Mich interessiert alles, was gut ist, ich mache keinen Unterschied zwischen U und E, Unterhaltung und Ernst, großen Shows und Maschinerien – oder irgendeinem Loch in New York, wo ein Schauspieler allein und ohne Geld auftritt. Für mich ist allein entscheidend, ob ich es aufregend oder langweilig finde.

Das Geld bringt oft nicht die bessere Kunst zustande.

Nein, aber die Fantasie.

Trotzdem lieben wir das teure Burgtheater, weil es so toll ist, oder?

Ich habe Achim Freyers Deutung der „Metamorphosen des Ovid“ geliebt, auch seine „Woyzeck“-Inszenierung.

„Metamorphosen“, das war 1987 – es gab heftige Diskussionen, da spielt sich ja gar nichts ab, haben manche Leute gesagt.

Man musste sich mit sich selbst beschäftigen, das fällt oft schwer.

Mochten Sie Amerika?

Ich möchte dort nicht leben. Ich glaube auch nicht, dass der American Way of Life in Zukunft noch so gewichtig sein wird. Der Amerikanismus wird immer mehr an Bedeutung verlieren. In China leben viel mehr Menschen als in Amerika. Vielleicht ist es künftig wichtiger, Mandarin zu sprechen als Englisch, wenn man einen guten Job haben will. Für mich ist etwas Neues lernen immer das Wichtigste.

Herr Berg, darf man Sie auch fragen...


1... ob Sie das viele Herumreisen manchmal auch kräftig nervt?

Nein. Ich kann mich leicht auf andere Kulturen und Umgangsformen einstellen. Wenn man in Asien gelebt, hat, ist es z. B. wichtig, dass man Respekt zeigt und den Leuten keinen Gesichtsverlust zufügt. Wenn man jemanden anschreit, ist es vorbei, nicht wie bei uns, man schreit sich an, dann beruhigt man sich, und es geht weiter. In Asien funktioniert das nicht, da gibt es dann keine Entschuldigung mehr.


2... ob Sie religiös sind oder Atheist?

Ist Atheismus nicht auch eine Art Religion? Nein, ich bin nicht religiös.

3... ob Sie sich irgendwo richtig zu Hause fühlen?

Wie die meisten Menschen fühle ich mich in meiner Familie zu Hause. Ich habe sehr viele unterschiedliche Identitäten. Ich lebe nicht an dem Ort, wo ich geboren bin, das verändert schon mal viel. Ich denke, es ist gut, wenn man sich früh genug bewegt.

Steckbrief

1961
Airan Berg wird in Tel Aviv geboren, 1972 übersiedelt die Familie nach Wien.

1993
Mit Martina Winkel gründet Berg das Theater ohne Grenzen und das Internationale Figurentheaterfestival Macht des Staunens.

2001
Berg übernimmt das Wiener Schauspielhaus (bis 2007, teilweise gemeinsam mit Barrie Kosky, seit 2012/13 Direktor der Komischen Oper in Berlin).

2007
Berg wird künstlerischer Leiter für die darstellende Kunst bei Linz09. 2009 war Linz Kulturhauptstadt Europas. Berg initiierte u. a. das Schulprojekt „I like to move it move it“, 30 Künstlerteams arbeiteten an fast 100 Schulen mit 700 Lehrern und über 2000 Schülern.

2015
Workshop an der Uni für angewandte Kunst in Wien (Oktober).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.07.2015)

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