Ben Kingsley: "Ich versuche zu heilen"

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Der Schauspieler Ben Kingsley will auf der Leinwand dem Publikum glaubwürdig Gefühle vermitteln. Seine Fähigkeit, mit anderen Menschen tief mitzuempfinden, helfe ihm dabei. Auch bei Komödien wie »Learning to Drive«, in der er aktuell im Kino zu sehen ist.

Mehrere Stunden Interviews hat Ben Kingsley an diesem Tag schon hinter sich, und doch ist er während des Gesprächs zu seiner Komödie „Learning to Drive“ (seit 7. August im Kino), in der er als Fahrlehrer zu sehen ist, hellwach. Oder genauer gesagt: Er wirkt aufgewühlt. Denn die Schauspielerei ist nicht einfach ein Beruf für den 71-Jährigen, sondern eine Mission.


Angeblich wollen Sie mit „Sir Ben Kingsley“ angesprochen werden . . .

Ben Kingsley: Sprechen Sie mich ruhig an, wie immer Sie wollen.


In „Learning to Drive“ bringen Sie als Fahrlehrer Ihrer Schülerin bei, die Welt um sich richtig wahrzunehmen. Wer hat Ihnen die Augen für die Welt geöffnet?

Ich kann so etwas nicht auf eine Person zurückführen. Das ist mit der Existenz des Schauspielerberufs verbunden. Als Kind war ich einsam, fühlte mich isoliert, und so entwickelte ich eine lebendige Vorstellungskraft und Neugier für die Welt, dank der ich dann mein eigenes imaginäres Universum schuf.


Befähigt das einen, Schauspieler zu werden?

Bei mir kam noch Folgendes hinzu: Seit frühester Kindheit kann ich mit anderen Personen tief mitempfinden. Als ich in der Schule das Märchen „The Water Babies“ las, eine Geschichte über die Abenteuer eines armen Kaminfegers, musste ich weinen. Oder im Kino bei „Bambi“ heulte ich so sehr, dass man mich aus dem Kino brachte, weil ich die anderen Kinder verstörte.


Ist Ihr Beruf effektiv eine Kompensation für Ihre inneren Verletzungen?

Nein, das nicht. Aber ich möchte damit ein Vakuum füllen. Ich versuche das Publikum zu heilen, indem ich Geschichten erzähle. Gerade weil ich aus eigener Erfahrung mit bestimmten Denk- und Gefühlsmustern vertraut bin, vermag ich diese auch bei den Zuschauern zu erkennen und sie umso glaubwürdiger zu vermitteln.

Sind Sie ein Fahrlehrer für das Publikum?

Ich würde sagen, ich bin ein Fährmann. Wenn du dich über einen Fluss bringen lässt, dann besteigst du ein Boot, dann gehst du an Land, und du denkst dir: ,Was ist jetzt eigentlich passiert? Ich weiß jetzt mehr, als ich vor dem Besteigen der Fähre wusste, aber ich vermag nicht zu sagen, auf welche Weise ich das erfahren habe.‘ Das ist meine Funktion als Schauspieler. Aber aus dem gleichen Grund mag ich es auch selbst, von Chauffeuren gefahren zu werden. Diese Menschen bringen mir immer etwas Wissenswertes bei.


Was vermitteln Sie als Schauspieler?

Das kann man nicht mit Worten ausdrücken. Vor nicht allzu langer Zeit war ich in einer Rodin-Ausstellung, und ich musste einfach weinen. Seine Kunst drückt etwas so unbeschreiblich Schönes aus. Genauso ist es mit bestimmten schauspielerischen Leistungen oder Filmen, die das Bestmögliche erreichen. Und das Publikum bewegt sich in diese Sphäre hinein, hört zu, wird Zeuge dieser Schönheit.


Können Sie den Effekt beschreiben, den Sie mit „Learning to Drive“ erreichen wollten?

Auch hier muss ich verneinen. Du willst das Publikum nicht manipulieren. Vielleicht sollte man es so formulieren: Geschichten, so wie sie auch dieser Film erzählt, ermutigen uns, einander wirklich wahrzunehmen. Denn die Tendenz ist, dass wir den anderen nicht mehr sehen. Die ganzen elektronischen Kommunikationsmittel verstärken das noch. Mit Geschichten können wir wieder die Balance herstellen. Ich muss da an einen anderen Film von mir denken – die Einwanderergeschichte „Das Haus aus Sand und Nebel“. Ein Journalist sagte zu mir: „Wenn ich jetzt in einem Taxi den Namen des Fahrers lese und sehe, dass er aus Asien oder dem Nahen Osten stammt, dann werde ich ihn ganz bewusst anschauen.“ Das war wunderbar. Mehr kann ich mir gar nicht wünschen.

Waren Sie eigentlich ein guter Fahrlehrer des Lebens für Ihre Kinder?

Da sollten Sie sie besser selbst fragen. Ich kann von meiner Seite nur sagen: Mein ganzer Kontakt mit ihnen ist klar, ungefiltert und liebevoll.


Und welche Lehrer hatten Sie als Schauspieler? Gab es da Mentoren?

Streng genommen kann jeder Mensch ein Mentor sein, so lange du nur zuschaust und zuhörst. So lange du glaubst, dass dir niemand was beibringen kann, wirst du nichts erfahren. In meinem Beruf sind das meine Kollegen. Wenn ich eine Rolle spiele, dann ist das ein richtiger Austausch von Techniken, Denkansätzen, Weltanschauungen, der extrem bewegend ist. Wenn der Regisseur danach ,Danke‘ sagt, dann brauchst du dich nicht mehr darüber auszutauschen. Denn das ist alles stillschweigend und implizit passiert.


Ihre vierte Frau ist ja auch Schauspielerin. Können Sie als gefeierter Oscargewinner noch etwas von ihr lernen?

Oh ja. Vor Kurzem haben wir einige Szenen von ihr zusammengestellt, um sie Castern, Agenten und Regisseuren zu präsentieren. Bei ihr kann ich keine Schauspielerei erkennen, denn alles kommt aus dem Instinkt heraus, völlig ungefiltert. Sie steht im Einklang mit ihrem Innersten. Das ist ganz ähnlich wie bei Kinderdarstellern, mit denen ich gedreht habe. Und genau diese Natürlichkeit strebe ich selbst an. Denn als ich anfing, war ich bei Weitem nicht so weit wie meine Frau es jetzt ist.

Und wie fährt Ihre Frau im Vergleich zu Ihnen?

Viel, viel aggressiver. Sie ist Brasilianerin. Ich lasse es ganz gemütlich angehen. Aber meistens werde ich sowieso gefahren.

Steckbrief

Sir Ben Kingsley wurde als Krishna Pandit Bhanji in der Nähe von Manchester in eine multikulturelle Familie hineingeboren. Sein Vater stammte aus Kenia, hatte jedoch Vorfahren aus Indien. Seine Mutter war russisch-jüdischer Abstammung.

Früh traf er den Entschluss, Schauspieler zu werden. Nach Theaterauftritten und mehreren Nebenrollen gelang ihm mit der Titelrolle in „Ghandi“ der Durchbruch (Oscar). Seither war er in einer Reihe großer Produktionen zu sehen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.08.2015)

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