Auszeit im sozialen Exil

Ianina Ilitcheva in ihrem Garten: „Die immergleiche Umgebung war für mich nie ein Gefängnis.“
Ianina Ilitcheva in ihrem Garten: „Die immergleiche Umgebung war für mich nie ein Gefängnis.“Die Presse
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Die Künstlerin Ianina Ilitcheva stellte für sechs Monate ihre sozialen Kontakte ein: keine Anrufe, kein Internet, keine Treffen mit Freunden. Und lernte dabei das Alleinsein.

Es war ein Freitag oder Samstag, und Ianina Ilitcheva hatte Herzklopfen. Schon 300 Meter, bevor sie das Lokal am Wiener Gürtel erreichte, holte sie die Aufregung ein. Was, wenn sie jemand anspricht? Würde sie weitergehen oder ein Gespräch anfangen? Eigentlich durfte sie das ja nicht. Sie gab sich einen Ruck und marschierte quer durch die Bar, es war viel los. Einer erkannte sie, doch er war nur eine flüchtige Bekanntschaft, niemand, der sich allzu sehr wunderte, Ilitcheva zu begegnen. Wie es ihr gehe, wollte er wissen, danke, gut, antwortete sie knapp, doch sie müsse weiter, habe leider keine Zeit. Nach einer Minute hatte sie die Bar durchquert und war wieder draußen. Dann musste sie erst einmal durchatmen.

Durch eine Bar zu gehen, alte Bekannte zu treffen, Smalltalk zu betreiben – all das ist nichts, was uns für gewöhnlich den Puls hochgehen lässt. Doch Ianina Ilitcheva hatte an jenem Abend bereits einige Monate in ihrer selbst auferlegten Isolation verbracht, da war ein Besuch ihrer Stammbar schon eine aufregende Sache. Ein halbes Jahr lang, von August 2012 bis Februar 2013, wollte die Kunststudentin ihre sozialen Interaktionen einstellen, einige Regeln hatte sie dafür aufgestellt: kein Kontakt zu Freunden oder Bekannten, keine Telefonate, SMS oder E-Mails, kein Facebook oder Twitter. Briefe würde sie beantworten, unangekündigte Besuche seien willkommen. Sie würde nur allein unter Menschen gehen und keine Begegnungen mit anderen suchen. Ausnahmen würde sie nur auf Reisen und für unverzichtbare Termine machen.

Inspirationsquelle

Was ihr im Zuge dieses Selbstversuchs passieren würde, wusste sie nicht, aber eines vorweg: Sie hat es ausgehalten in ihrem sozialen Exil. Gerade ist in der neuen Literaturschiene des Verlags Kremayr & Scheriau ein Buch erschienen, das ihre Erfahrungen dokumentiert: „183 Tage“ erzählt auf 288 Seiten von den Freuden und Nöten des Alleinseins, mit Zeichnungen, Notizzetteln, Tagebucheinträgen, Gedichten und Selbstporträts, die auf Transparentseiten gedruckt sind.

So poetisch und künstlerisch das Buch ist, so investigativ war ihr Experiment angelegt. Als Studentin der Malerei an der Akademie der bildenden Künste – mittlerweile hat sie das Studium abgeschlossen und studiert Sprachkunst an der Angewandten – wollte sie erforschen, aus welchen Quellen sie Inspiration schöpfen würde, wenn sie sich von sozialen Kontakten abriegelt. „Für mich war die wichtigste Frage: Brauche ich für meine Arbeit Einflüsse von außen, oder hab ich so viel in mir angesammelt, dass ich daraus schon etwas machen kann?“, erzählt sie im Gespräch.

Nach einem Abschiedsfest zog sie sich also zurück, verbrachte die meiste Zeit in ihrer Wohnung und zog manchmal nachts allein durch die Straßen Wiens. Wurde sie angesprochen, antwortete sie zwar, selbst stieß sie aber keine Gespräche an. Bei ihren Freunden und Bekannten meldete sie sich nur mit einem monatlichen Blogeintrag. Als durchaus mitteilungsfreudige Person – ihr Twitter-Account zählt über 30.000 Tweets – fiel ihr die Funkstille anfangs nicht leicht: „Man ist ständig angespannt. Man beobachtet sich selbst, wie es einem geht, man versucht, sich abzulenken. In der Nacht habe ich auf jedes Geräusch reagiert. Es war, als würde ich in einem Haus wohnen, das nur aus Alleinsein besteht.“ Nicht zu kommunizieren sei wie ein Entzug gewesen. Oft habe sie sich dabei ertappt, zum Handy greifen zu wollen. „Das Witzige ist, dass sich das Gehirn kleine Ausreden sucht, Hinterpfade, um doch mal aufs Handy zu schauen: Erwartest du nicht dieses wichtige E-Mail? Warte mal, was war das noch? Und dann ertappt man sich: Moment, das hast du also vor. Na warte, sicher nicht!“

Eine unerwartete Herausforderung trat ein, als kurz nach Beginn des Projekts ihr alter Hund starb, den sie aufgezogen hatte, seit er ein Welpe war. „Da spürt man erst, dass man wirklich allein in einem leeren Raum ist. An diesem Tag habe ich meine Regeln gebrochen: Ich war eine Stunde online, mitten in der Nacht, da passiert aber fast nichts.“ Im Sinne des wissenschaftlichen Experiments brach sie die Regeln auch einige Male bewusst, sie eröffnete etwa einen anonymen Twitter-Account und veröffentlichte immer wieder Beiträge, „um zu sehen, was das mit mir macht“. Als sie eine kurze Pause vom Selbstversuch nahm, um einen Forscherkongress in Spanien zu besuchen, sei es ihr richtig seltsam und ungewohnt vorgekommen, wieder mit Menschen zu kommunizieren.

Alleinsein können

Zur Selbstfindung habe die Einsamkeit jedenfalls beigetragen: „Ich bin mit dem Alleinsein vertraut geworden“, sagt sie, im Wohnzimmer ihrer Wohnung in Wien-Donaustadt sitzend. Es sieht ein wenig chaotisch aus, an der Wand hängen lose Zettel, aus großen Gläsern auf dem Fensterbrett ragen Pinsel, dahinter erstreckt sich der kleine verwilderte Garten mit den Gemüsebeeten, wo Tomaten und Zucchini wachsen. „Die immer gleiche Umgebung war für mich nie ein Gefängnis.“

Nach sechs Monaten fand sie langsam zu ihrem gewohnten Leben zurück, ihre Aufzeichnungen, die nun in Buchform erschienen sind, reichte sie als Diplomarbeit ein. Was rät sie Menschen, die überlegen, ebenfalls eine kommunikative Auszeit einzulegen? „Sich Regeln aufzustellen – auch wenn man sich später nicht daran hält – und eine Idee zu haben, wohin man mit sich selbst will.“ Und kleine Schritte zu machen, wenn ein halbes Jahr zu lang erscheint: „Mach zum Beispiel Schweigeurlaub! Hau dich in ein Kloster und hab keine Angst davor, einmal nicht zu kommunizieren!“

Neu Erschienen

„183 Tage“ erzählt in Form von Notizen, Zeichnungen, Gedichten und Tagebucheinträgen vom sozialen Rückzug einer Kunststudentin: 183 Tage lang stellte sie den Kontakt zu ihren Freunden und Bekannten völlig ein.

Ianina Ilitcheva wurde 1983 in Usbekistan geboren und zog mit acht Jahren nach Wien. Sie studierte Malerei an der Akademie der bildenden Künste – die soziale Auszeit und deren künstlerische Dokumentation wurden zu ihrem Diplomprojekt – und studiert jetzt Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst. „183 Tage“ ist ihr erstes Buch.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.08.2015)

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