Cecily Corti: "Ich bin vorsichtig mit dem Wort helfen"

Die Heimat in sich selbst zu finden ist eines ihrer wichtigsten Credos: Cecily Corti.
Die Heimat in sich selbst zu finden ist eines ihrer wichtigsten Credos: Cecily Corti.Die Presse
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"Man muss auf dem Grund gewesen sein" lautet der Titel von Cecily Cortis neuem Buch. Im Interview spricht die 75-Jährige über ihre Erfahrungen mit Heimat- und Orientierungslosigkeit und den Mut, Veränderung zuzulassen.

Was bedeutet es für Sie persönlich, auf dem Grund gewesen zu sein?

Cecily Corti: Der Essenz meines Lebens etwas näher gekommen zu sein. Das wird einem ja nicht in die Wiege gelegt. Ich habe in meinem Leben viele Hindernisse und Grenzen überwunden, nach Wegen gesucht, meiner Sehnsucht zu folgen. Da war ich unausweichlich mit Fragen konfrontiert wie „Warum bin ich da?“, „Was macht mich aus?“, „Welchen Beitrag kann ich leisten?“. Es gab längere Phasen, in denen ich um Antworten gerungen habe, meinen eigenen Weg zu finden. Die vielen Herausforderungen haben mich immer wacher werden lassen. Es gab auch Momente, in denen ich mir wünschte, in einen endlosen Schacht zu stürzen und irgendwann auf den Boden zu knallen. Dann bin ich tot oder eben endlich wirklich lebendig.

„Was macht mich aus?“ – Haben Sie eine Antwort auf diese Frage gefunden?

Das bleibt für mich immer ein Teil des Geheimnisses. Bis zuletzt. Aber Schritt für Schritt gewinne ich auf diesem Lebensweg an Vertrauen. Vieles zeigt sich im Gehen. Einmal ist es ein Geschenk, dann wieder eine große Herausforderung. Aber es geht immer weiter.


Was bedeutet Heimatlosigkeit für Sie?

Herumzuirren. Nicht zu wissen, wo ich hingehöre. Kein wirkliches Zuhause zu haben. Das muss aber nicht ein Ort sein. Ich habe großes Glück, weil der größere Teil meiner Familie in Wien lebt. Und ich habe eine wirkliche Beziehung zu ihnen. Heimat ist für mich, in Beziehung mit Menschen zu sein, mit ihnen Gedanken und Gefühle teilen zu können.


Gerade erleben wir Menschen, die mit einer für sie ganz neuen Welt konfrontiert sind...

Diese Menschen brauchen viel Kraft und Unterstützung, um sich zurechtzufinden. Das habe ich so nie erlebt. Ich war wohl oft weit weg, schon als Kind, ich hatte aber immer meine Familie als sicheren Ort, an de ich zurückkehren kann. Und doch habe auch ich Heimat- und Orientierungslosigkeit erlebt. Das war eher ein innerer Zustand. Die vielen Flüchtlinge jetzt sind existenziell damit konfrontiert. Das ist eine ganz andere Situation. Nicht zu wissen, wo ich heute Nacht ein Bett zum Übernachten finde. Möglicherweise mit einem Kind oder zwei, wo ich ankommen, zur Ruhe kommen kann, und irgendwann ein neues Leben beginnen. Können wir uns das überhaupt vorstellen? Mitfühlen?


Können wir? Was meinen Sie?

Natürlich habe ich auf einigen Reisen erlebt, dass ich nicht wusste, wo ich heute Abend ein Bett finden werde, weil ich nichts reserviert hatte. Nach dem Tod meines Mannes war ich zwei Monate in Indien, eine für mich ganz neue, fremde Welt. Ich wollte auf diese Reise unbedingt allein gehen. Ich bin ja neugierig und wollte unmittelbar erleben, wie dieses Fremde auf mich wirkt. Auch beim Krebs habe ich das ähnlich erlebt – was mich heute noch etwas verwundert. Ich bin nicht in Panik geraten, sondern wollte wissen, was der Krebs mit mir macht. Die Möglichkeit zu sterben hat mich nicht erschreckt. Nicht einmal der künstliche Darmausgang. Ich dachte nur: „Aha, wie gehe ich damit um? Das ist eine neue Situation für mich.“

Können Sie sich einen kompletten Neustart vorstellen? In einem fremden Land?

Heute wohl nicht mehr. Früher hätte ich das sicher gemacht, wenn es notwendig gewesen wäre. Als ich in Indien und später in Guatemala war, gab es die Versuchung zu bleiben. Aber ich bin in Wien zu Hause und die Verbundenheit zu meiner Familie ist sehr stark. Außerdem habe ich hier viel zu tun. Es käme mir treulos vor, einfach zu gehen.


Wenn man eine Sache mit so viel Leidenschaft verfolgt wie Sie, macht man sich manchmal vielleicht Gedanken darüber, wie es nach dem Tod damit weitergeht. Beschäftigen Sie solche Gedanken?

Natürlich kommt das vor. Das ist aber keineswegs bedrohlich. Es wird weiterleben, da bin ich mir sicher. Es wird sich verändern und das ist gut so. Ich werde jedenfalls in unserer Notschlafstelle Nachtdienste machen, solange ich körperlich dazu in der Lage bin.


Bei allem, was Sie erlebt haben – gibt es auch Momente des Haderns?

Nein. Nicht mehr. In all den Jahren ist ein tiefes Vertrauen gewachsen. Natürlich gab es immer wieder und gibt es auch immer noch gewaltige Schwierigkeiten. Und dann findet sich immer eine Lösung. Darauf vertraue ich inzwischen. Ich kann das nicht als Empfehlung an andere weitergeben. Das gilt nur für mich. Oft dauert mir die Unsicherheit auch sehr lang. Aber das Ringen und Flehen hat immer ein Ende und dann weiß ich, dass es stimmt.

Wie fleht man um eine Lösung?

Einerseits in der Tradition des Gebets. Obwohl sich das für mich sehr verändert hat, so wie das Verständnis von Religion überhaupt. Ich erfahre Gott nicht als ein Gegenüber. Trotzdem bewirkt das Gebet immer wieder auch eine Form der Öffnung. Ich werde bereit, das anzunehmen, was ist. Für mich ist auch die Stille sehr wichtig geworden. Regelmäßig in einen Raum in mir vorzudringen, wo kein Denken mehr stattfindet. Wo ich mich sozusagen in eine Situation hineinbegebe und ein Teil davon werde, keine Fragen mehr habe. Dann kann es auch geschehen, dass plötzlich eine Antwort da ist. Ich habe eine starke Überzeugung, dass das Leben einen Sinn hat.


Draufgängerisch zu sein und öfter einmal aufs Ganze zu gehen – ist das etwas, was Sie jungen Menschen mit auf den Weg geben würden?

Ja. ohne Mut geht gar nichts. Immer für Veränderungen offen sein. Ich bin Menschen begegnet, die in großer Not waren, die sich in einem tiefen Loch befanden. Sie wollten da wirklich raus, aber gleichzeitig sollte sich an ihrer gesamten Lebenssituation nichts ändern. Das habe ich oft erlebt. Obwohl ich weiß, dass mein Leben ein Horror, ein Gefängnis ist, will ich nichts daran ändern, denn das ist mir vertraut. Um es zu verlassen, braucht es Mut. Für alles Neue braucht es Mut. Auch um Widerstand zu leisten, um für eine eigene Meinung einzustehen.


Würden Sie sagen, dass man im Leben eher die Dinge bereut, die man nicht gemacht hat, als die, die man gemacht hat?

Darüber denke ich nicht nach. Vieles geschieht, ohne dass wir viel dazu tun. Und dann kommt plötzlich der Moment, in dem eine Entscheidung getroffen werden muss. Rückblickend bin ich dankbar, dass ich anscheinend meist richtig entschieden habe, dass die Entwicklung immer weiter ging. Persönlich bereue ich, Menschen verletzt zu haben.


Hat sich Ihre Art zu helfen im Lauf der Jahre verändert?

Ich bin vorsichtig mit dem Wort helfen. Menschen – sofern ich in der Lage bin – das zu geben, was sie gerade brauchen, ist normal. Ich kann niemandem einen dauerhaften Job verschaffen, nicht einmal eine Wohnung. Worum ich mich bemühe ist, die Menschen, die zu uns in die Notschlafstelle kommen, ernst zu nehmen, ihnen Raum zu geben, um zur Ruhe zu kommen. Wir wollen nicht urteilen, Wir wollen niemanden erziehen. Respekt ist so wichtig, auch in der aktuellen Situation, in der sie sich befinden.


Was sind Ihrer Meinung nach die Gründe, warum Menschen obdachlos werden?

Fast immer sind es zerbrochene Beziehungen. Wir können alle so schwer mit Konflikten umgehen, mit Spannungen in unserem unmittelbaren Umfeld.


Ist das Ihrer Meinung nach eine Folge unserer Sozialisation?

Viele Menschen haben in ihrer Kindheit keine Zugehörigkeit erlebt, keine Form der Geborgenheit. Da ist es ja fast unmöglich, stabile Beziehungen aufzubauen. Es geht aber auch um den Verlust von Werten. Was früher beispielsweise durch die Kirche verordnet wurde, hat vielen einen gewissen Halt gegeben. Auch wenn die Gebote nicht eingehalten wurden. Die Orientierung, die heute über das Fernsehen und die Medien vermittelt wird, kann nur verunsichern. Wenn ich von 16-jährigen Jugendlichen höre, dass ihr Berufswunsch ist, ein „Star“ zu werden, dann ist das eine klare Aussage – Geltung haben um jeden Preis, besser sein als andere, glänzen wollen. Natürlich ist das Ego wichtig, aber es geht nur miteinander. Wir hätten eine bessere Welt, wenn wir bessere Beziehungen hätten, davon bin ich überzeugt. Überhaupt geht mir das ewige Jammern auf die Nerven. Immer sind die anderen schuld an der Misere. Ich muss bei mir selbst beginnen. Dort in meinem Verhalten ansetzen, wo ich eine Veränderung bewirken kann. Damit habe ich genug zu tun.

Frau Corti, darf man Sie auch fragen...


1. . . ob Sie privat krankenversichert sind?
Ja, ich habe eine private Zusatzversicherung.


2. . . ob Sie in der Vergangenheit schon einmal Hilfe bei einem Psychologen bzw. Therapeuten gesucht haben?
Selbstverständlich habe ich auch Rat bei Therapeuten gesucht und gefunden.


3... was Sie mit den Preisgeldern Ihrer zahlreichen Auszeichnungen gemacht haben?

Meine Auszeichnungen haben nie Geld beinhaltet. Da war immer nur die Ehre. Den Vorschuss, den ich bisher für mein Buch „Man muss auf dem Grund gewesen sein“ bekommen habe, habe ich der VinziRast überweisen lassen.

Steckbrief

1940
wurde Cecily Corti in Wien geboren. Einen Teil ihrer Kindheit verbrachte sie in Slowenien, erlebte Flucht und Vertreibung. Ihr Vater wurde verschleppt und ermordet. Die Familie landete schließlich in Salzburg.

1964
heiratete sie den Regisseur Axel Corti, mit dem sie drei Söhne bekam. Jahre nach dem Tod ihres Mannes begann ihr intensives soziales Engagement. Sie betreibt mittlerweile vier Einrichtungen (VinziRast-Gruppe), in denen Obdachlose Unterkunft finden. Für ihr Engagement wurde sie unter anderem mit dem Viktor-Frankl-Ehrenpreis, dem Goldenen Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich und 2013 mit dem Bruno-Kreisky-Preis für Verdienste um die Menschenrechte ausgezeichnet. Nähere Informationen zur ihrem Engagement: www.vinzirast.at.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.10.2015)

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