Adam Fischer: "Gefallen zu wollen, ist die größte Gefahr"

Dirigent Adam Fischer: „Ich bin ein klarer Fall eines Wirtschaftsflüchtlings.“
Dirigent Adam Fischer: „Ich bin ein klarer Fall eines Wirtschaftsflüchtlings.“Die Presse
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Mit 21 Jahren hat der Dirigent Adam Fischer Ungarn verlassen, empfindet aber das Land immer noch als seine Heimat. Dabei hält er sich nicht zurück mit Kritik an der ungarischen Gesellschaft.

Der Dirigent steht immer mit dem Rücken zum Publikum. Nehmen Sie trotzdem die Stimmung der Zuschauer wahr?

Adam Fischer: Ich zeige dem Publikum die kalte Schulter und bekomme die Wirkung des Stückes tatsächlich am wenigsten mit. Natürlich empfinde ich irgendwie, was hinter meinem Rücken passiert, aber die Interaktion findet vielmehr zwischen den Darstellern und den Zuschauern statt.

Beschäftigen sich die Musiker denn schon vor der Premiere damit, wie das Publikum reagieren könnte?

Ja, ich habe immer wieder das Gefühl, die Leute wollen schon bei der ersten Probe wissen, was das Publikum denken wird. Aber das Publikum ist das größte Rätsel seit 2500 Jahren. Man kann es nicht herausfinden, es reagiert immer ein wenig anders.

Sich schon bei der ersten Probe zu überlegen, was den Zuschauern gefallen könnte, ist wohl nicht gerade ein puristischer Ansatz.

Gefallen zu wollen, ist die größte Gefahr. Bei jungen Künstlern ist sie größer. Das ist normal, weil sie ja an ihre Karriere denken. Ich muss auch immer wieder ihre Gesangslehrer von den Proben verbannen.

Wann tun Sie das?

Wenn der Komponist an einer Stelle „pianissimo“ geschrieben hat und die Lehrer ihren Schülern sagen: „Du musst hier trotzdem laut singen, sonst glauben die Leute, du hast keine Stimme.“ Dann muss ich das tun. Wir müssen nämlich nicht gefallen, wir müssen aufrütteln und wir müssen bewegen. Und als Dirigent muss ich eine akustische Vision von dem Stück haben, ich muss versuchen, meine Wahrheit zu vertreten. Das Problem dabei ist nur, dass ich alle paar Jahre etwas anderes für die Wahrheit halte.

Sie sind in Ungarn geboren, haben das Land aber schon mit 21 Jahren verlassen. Ist Ungarn nach wie vor Ihre Heimat?

Was ist Heimat, ist die Frage. (Pause) Ja, ich habe zu dem Land natürlich eine besondere Beziehung aufgrund meiner Herkunft, der Sprache, der Küche und der Freunde, die ich dort habe. Meine Familie ist allerdings nicht mehr ungarisch, mein Enkel spricht drei, vier Sprachen, aber kein Ungarisch.

Ihre Antwort kam ein bisschen zögerlich.

Na ja. (Pause) Ich sage jetzt Sachen, die gefährlich sind: Die Unabhängigkeit hat Ungarn immer noch Unglück gebracht. Im Augenblick erleben wir, dass die Befreiung des Landes von Russland vor 25 Jahren Ungarn auch in eine falsche Richtung gedrängt hat.

Inwiefern?

Es war eine große Illusion von vielen von uns, auch von mir, zu glauben, Ungarn könne sich nach der Wende zu einer demokratischen Gesellschaft entwickeln, so wie das in Skandinavien oder Westeuropa der Fall ist. Mein Vater, der 1900 geboren wurde und zwei Weltkriege erlebt hat, sagte damals nur: „Um Gottes Willen, ihr habt ja keine Ahnung.“ Er hat so viel durchgemacht und so viele sozialpsychologische Bücher gelesen, er wusste, wie die Ungarn „funktionieren“.

Wie „funktionieren“ die Ungarn?

Ungarn hat sich immer eingeigelt, Ungarn nimmt nicht wahr, was außerhalb des Landes passiert, und die Ungarn wollen es auch gar nicht wahrnehmen. Die wenigsten von ihnen sprechen Fremdsprachen, daher bekommen sie auch keine Informationen von außen. Sie schmoren einfach im eigenen Saft. Das ist gefährlich. Da wird aus der Not schon einmal eine Tugend gemacht und die Umwelt zurechtgelogen.

Ein Beispiel?

Die Ungarn haben es geschafft, in den vergangenen 500 Jahren ausnahmslos sämtliche Kriege zu verlieren, die sie geführt haben. Trotzdem sprechen sie von der glorreichen ungarischen Armee.

Sie sagen, die Ungarn igeln sich ein. Woher kommt dieses Bedürfnis?

Der Grund ist ihr Minderwertigkeitskomplex, die ungarische Gesellschaft ist voll mit Minderwertigkeitskomplexen. Die machen sie aggressiv.

Und woher kommt das?

Das hat auch mit der Sprache zu tun, es ist viel schwieriger für einen Ungarn, Fremdsprachen zu lernen als für andere. Das ist nur eine Erklärung. Ich weiß es aber eigentlich nicht, es wäre interessant, der Frage nachzugehen.

Und glauben Sie, Ungarn verträgt keine Demokratie, oder Ungarn will gar keine?

Es ist sehr gefährlich zu sagen, welche Nation reif für eine Demokratie ist. Denn wir sprechen ja von keiner Schönwetter-Demokratie, die nur dann gut ist, wenn sie macht, was ich gerade will. Ich sehe, dass in Ungarn die Reflexe keine demokratischen sind. Daher sage ich, Ungarn ist nicht reif für eine Demokratie im westlichen Sinn. Doch was Westeuropa erreicht hat, ist etwas Einmaliges in der Geschichte. Seit zwei, drei Generationen können die Berufssoldaten im Grund in Rente gehen, ohne je in einem Krieg gewesen zu sein. Das ist wunderbar.

Wenn Sie von fehlenden demokratischen Reflexen sprechen, meinen Sie auch die Haltung Ungarns in der Flüchtlingsfrage?

Na gut, wie sich Ungarn in der Flüchtlingsfrage verhält, ist eine Schande.

Viktor Orbán warnte so deutlich wie kein anderer europäischer Staatschef vor der Gefahr der Islamisierung Europas.

Über Ängste muss man sprechen. Aber es geht darum, wie Orbán das gemacht hat. Das hat überhaupt nichts mit Flüchtlingen zu tun. Ich betreue seit 15 Jahren Flüchtlingsprogramme. Kein einziger Flüchtling will in Ungarn bleiben, ich würde das auch nicht wollen. Die Umgebung ist dort so feindlich, darum wollen alle weiter. Also das wäre doch alles kein Problem für Ungarn gewesen. Aber Orbán hat es gleich zum innenpolitischen Thema gemacht und die Ängste der Ärmeren, der Landbevölkerung, geschürt. Das ist immer die Technik von Orbán, der einst als liberaler Politiker begonnen hat: Er findet immer Feindbilder, gegen die er hetzen kann. So endet er nun in der Gesellschaft von Leuten wie Heinz-Christian Strache und Geert Wilders in Holland. Aber den Populisten kann man die Lösung dieses großen Problems nicht überlassen, denn mit Parolen kommt man in dieser Frage sicher nicht weiter.

Sicher nicht. Aber wie kommt man weiter?

Man muss es differenziert angehen und das ist keine Tugend der Politik. Angela Merkel hat es fantastisch gemacht, aber ob sie damit Erfolg hat, ist fraglich.

Wie definieren Sie in diesem Zusammenhang Erfolg?

Was wir jetzt gerade tun, ist, Erste Hilfe zu leisten. Es ist das Normalste auf der Welt, dass wir niemanden ertrinken, erfrieren oder verhungern lassen. Ob die Flüchtlinge in ein paar Generationen unsere Gesellschaft verändert haben werden, darüber brauchen wir in dieser Situation nicht nachzudenken. Das kann man nur im Rückblick. Doch zu Ihrer Frage: Erfolg wäre, wenn die Leute gar nicht zu uns kommen müssten. Alles hängt davon ab, ob man die Kriege in den Ländern, aus denen die Flüchtlinge kommen, stoppen kann. Ich bin überzeugt, dass viele Flüchtlinge sofort wieder in ihre Heimat zurückgingen, wenn Frieden herrschte und sie ein menschenwürdiges Leben führen können. Ich verstehe auch nicht, weshalb die ganze Zeit auf Wirtschaftsmigranten geschimpft wird, man ihnen vorwirft, sie seien doch gar nicht im Lebensgefahr. Wenn jemand herkommt, weil er nicht will, dass seine Kinder ohne Schulbildung aufwachsen, dann ist das doch das Normalste auf der Welt.

Halten Sie die Unterscheidung zwischen Asylanten und Wirtschaftsflüchtling für irrelevant?

Schauen Sie mich an! Ich bin ein klarer Fall eines Wirtschaftsflüchtlings. Ich war egoistisch, ich wollte Musik machen. Ich bin mit 21 Jahren nach Österreich gekommen, weil ich das hier am besten konnte. Hier gab es Menschen, die mich ernst genommen haben. Wer bin ich, dass ich jetzt auf jene, die das Gleiche wollen, schimpfen soll? Ich, der ich so ein unglaublich glückliches Leben gehabt habe?

Schön, dass Sie das sagen.

Nur drei Sachen: Erst einmal, ich bin gesund dank Gottes Segen. Ich mache einen Beruf, den ich auch ohne Geld machen würde, weil er eine Berufung ist. Ich habe nie etwas machen müssen, was mir keinen Spaß gemacht hat – und ich habe damit immer mehr Geld verdient, als ich gebraucht habe.

Und Sie haben eine große Familie.

Ja, das auch noch. Und deshalb habe ich die Verpflichtung, jenen zu helfen, die aus irgendeinem Grund weniger Glück hatten als ich.

Herr Fischer, darf man Sie auch fragen...


1. . . weshalb Sie Musiker geworden sind?

Für meinen Vater war es das Wichtigste, dass wir Kinder Ungarn einmal verlassen. Deshalb hat er uns gedrängt, Musik zu machen. Er wollte, dass seine Kinder einen Beruf erlernen, der nicht an die Sprache gebunden ist. Das habe ich erst viel später verstanden. Ich hatte also nie die Wahl, etwas anderes zu machen als Musik und deshalb starke Zweifel, ob ich den richtigen Beruf gewählt habe. Denn man wird nicht Dirigent, weil man das macht, was der andere von einem will.


2. . . ob Sie nie gegen Ihren Vater rebelliert haben?

Ja schon, aber es war schon zu spät. Hätte ich das früher erkannt, vielleicht hätte ich etwas anderes studiert.


3... ob Ihre Kinder Musiker geworden sind?

Nein, mein Sohn ist Mathematiker und meine Tochter hat ein bisschen mit dem Theater zu tun.

Steckbrief

1949
wurde der Dirigent Adam Fischer in Budapest geboren.

Er studierte bei Hans Swarowsky in Wien und startete nach seinem Sieg beim Cantelli-Wettbewerb (Mailand) eine internationale Dirigentenkarriere.

1988
gründete Fischer die österreichisch-ungarische Haydn-Philharmonie.

Von 2007 bis 2010
war er der Künstlerische Leiter der Ungarischen Staatsoper, die er aber aufgrund politischer Interventionen seitens der rechts-konservativen Regierung unter Protest verließ.

Fischer ist regelmäßig an den größten Opernhäusern in Europa und den USA tätig. Im Dezember dirigiert er „Rosenkavalier“ von Richard Strauss an der Wiener Staatsoper.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.11.2015)

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