Davydova: "Das Gefährliche ist der Semifaschismus"

Marina Davydova
Marina DavydovaAPA (HERBERT NEUBAUER)
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Marina Davydova, Schauspieldirektorin der Wiener Festwochen, über das Leben der Intellektuellen in Russland, ihre Enttäuschung und die Repressionen in Putins Regime.

Sie sind im heurigen Jahr Schauspieldirektorin der Wiener Festwochen, aber auch Theaterkritikerin. Kritiker, heißt es oft, sind in Wahrheit verhinderte Schauspieler, Regisseure, Künstler. Wie war das bei Ihnen?

Marina Davydova: Ich war 13, als ich mich entschieden habe. Ich habe bemerkt, dass ich kein Talent zum Spielen habe. Ich liebte aber das Theater – und ich liebte Schreiben, und ich fragte mich, wie ich beides vereinen könnte.


Was war Ihr erstes Theatererlebnis?

Ich stamme aus Baku, der Hauptstadt von Aserbeidschan, einem Wirtschafts- und Kulturzentrum mit einem wichtigen Erdölhafen. Ich spielte bei einer Aufführung der „Drei Musketiere“ für Kinder mit. Es war schrecklich. Es gab aber auch eine semiprofessionelle Amateurgruppe, in der war ich von zwölf bis 16. Das war eine sehr wichtige Erfahrung für mich. Unser Leiter, Simon Steinberg, hat Theatergeschichte vermittelt und uns mit großen Namen der Gegenwart bekannt gemacht. Als ich nach Moskau kam, wusste ich schon viel über Theater. Ich habe die Bühnenkunst nicht als Zuschauerin, sondern als Mitwirkende kennengelernt.


War Ihre Familie kunstinteressiert?

Meine Eltern sind Ingenieure. Sie hatten mit Kunst und Theater nichts zu tun. Aber sie waren stolz auf mich.


Sie haben an der Fakultät für Theaterkritik der renommierten Russian Academy of Theatre Arts in Moskau studiert. Sind Sie dort gleich aufgenommen worden?

Es war schwierig. In den 1980er-Jahren war diese Ausbildungsstätte sehr beliebt bei jungen Leuten. Ein großer Vorteil des Studiums war, dass man mit Regisseuren, Bühnenbildnern, Autoren zusammen studierte und daher alle Facetten der Bühnenkunst in Theorie und Praxis kennenlernen konnte.


Was haben Sie für Erinnerungen an die 1980er- und 1990er-Jahre in Russland? Das war eine sehr bewegte Zeit des Übergangs von Breschnew und Andropow, die das alte Regime vertraten, zu Gorbatschow mit Glasnost und Perestroika.

Als ich in das Theaterinstitut eintrat, war die Stimmung sehr depressiv. Es war noch die sowjetische Zeit. Theater war für viele Intellektuelle und studierte Leute wie ein Fenster zur Welt.


Wie ist das heute in Putins Russland?

Einerseits war Theater ein Fluchtpunkt, andererseits gab es noch in den 1990er-Jahren eine Mauer zwischen Theater und Realität. Wir haben uns versteckt in dieser wunderbaren Welt des Theaters. In der Sowjetzeit hatte Theater eine starke soziale und gesellschaftliche Botschaft. Als die Sowjetunion zerbrach, verlor es diese Bedeutung. Für mich muss Theater unbedingt auch die schmerzhaften Seiten des Lebens reflektieren. Es muss mit der Realität verbunden sein. In den 1990ern war das noch gegeben, in den Nuller-Jahren hat sich das verändert.


In welcher Hinsicht?

Es kam zu einer Kommerzialisierung der Kunst. Das war für viele Leute im Theaterbereich enttäuschend.


Wie ist es jetzt?

Die Theater sind voll und sehr beliebt. Leere Zuschauerräume gibt es nicht. Dabei sind 90 Prozent der Aufführungen nicht interessant. Es werden vor allem Klassiker gespielt, und auch die Popkultur ist sehr wichtig geworden. Englischsprachige Autoren wie zum Beispiel Ray Cooney (von ihm ist z. B. die Farce „Außer Kontrolle“, die 2009 im Wiener Volkstheater einen großen Erfolg hatte, Anm.) oder Noël Coward, und auch Westend-Comedies in russischem Stil haben die Spielpläne erobert. Sogar Tschechows „Kirschgarten“ wird als kommerzielles Stück aufgeführt. Moskau und Sankt Petersburg sind Megalopolen, man findet dort fast alles, Klassiker, Arthouse, Dokumentationen und Off-Theater.


Im Westen hörte man einiges von teatr.doc, einer regimekritischen Truppe. Ihr Theater wäre fast geschlossen worden.

Teatr.doc ist ein kleines, aber sehr wichtiges Theater mit einem großen Repertoire. „Berlusputin“ verärgerte im Jänner 2015 die russische Politik. Es ist ein neues Stück des Literaturnobelpreisträgers Dario Fo, im Original heißt es „L'Anomalo bicefalo“, übersetzt „Der anormale Doppelköpfige“. Putin wird bei einem Staatsbesuch in Rom durch ein Attentat getötet, bei dem auch Berlusconi schwer verletzt wird. Putins halbes Gehirn wird Berlusconi eingepflanzt. Dieses Stück wurde für den wichtigsten russischen Theaterpreis nominiert. Das zeigt, in welcher schizophrenen Situation wir leben.


Die Freiheit schwindet langsam, aber sicher.

Seit 2012 hat sich die Lage Schritt für Schritt verschärft. Wesentlich dazu beigetragen haben die Ukraine-Krise und die Krim-Annexion. Das Gefährliche ist der Semifaschismus, der sich breitmacht. Institutionen wie teatr.doc oder das Gogol-Centre, von dem 2015 Gogols „Tote Seelen“ nach Wien kam – die Aufführung hatte einen großen Erfolg bei den Wiener Festwochen –, stehen immer mehr unter dem Druck der Behörden. Das gilt auch für die Theaterzeitung, die ich leite.


Bekommen Sie Anrufe?

Es gibt keine Zensur, offiziell herrscht Demokratie. Wir sind freie Menschen. Wir können sagen, was wir wollen. Das steht in unserer Verfassung. Im richtigen Leben wird es aber immer schwieriger, die Verfassung und die Realität sind wie zwei verschiedene Planeten.


Man darf sich nicht zu weit vorwagen.

So ist es. Der Staat hat ein starkes Instrument in Händen: die Finanzen. Die Bühnen bekommen ihr Geld von der öffentlichen Hand. Man schaut sich ein paar Aufführungen an und dann wird z. B. entschieden: „Wir kürzen die Unterstützung um 80 Prozent.“ So habe ich erfahren, dass die Subvention für unser Journal, „Teatr“, um 75 Prozent gekürzt wurde. Man hat versucht, uns auszuschalten. Der Grund ist, dass ich 2014 eine Spezialausgabe über Theater in der Ukraine gemacht habe. Es gab keine explizit politische Setzung. Aber das Cover zeigte die ukrainischen Farben, Gelb und Blau.


Wie haben Sie das Journal gerettet?

Die Prochorow-Foundation des Grundstoffunternehmers und Industriellen Michail D. Prochorow hat uns geholfen. Sie unterstützt innovative Projekte in den Medien, im Theater, in der zeitgenössischen Kunst. Wie es weitergeht, ist unklar. Das Journal erscheint viermal im Jahr. Es trifft nicht nur uns.


Wollen Sie ein paar Tipps für den schon laufenden Festwochen-Vorverkauf geben?

Wir beginnen mit der großen Personale über Sigalit Landau und enden mit Yasmeen Godder, beide kommen aus Israel. Landau ist eine gefeierte Videokünstlerin, Godder arbeitet tänzerisch-performativ, das Publikum ist einbezogen in die Aufführung.


Bei den Festwochen gibt es seit einigen Jahren ziemlich viel Russisches. Leidet darunter nicht die Vielfalt?

Wir haben viel Russisches, aber auch vieles andere. „Primal Matter“ von Dimitris Papaioannou aus Griechenland ist eine stille Performance von großer philosophischer Tiefe. Konstantin Bogomolov aus Riga zeigt „Ein idealer Gatte“ nach Oscar Wilde, er verwendet verschiedene Texte, aus „Das Bildnis des Dorian Gray“, aus dem „Faust“, aus Tschechows „Drei Schwestern“. Das Stück ist eine starke, witzige Satire über die russische Realität. Ich liebe es, wenn ich im Theater eine neue Sprache sehe und etwas Ungewöhnliches.


Die Festwochen zeigen einen 24-Stunden-Marathon, „Mount Olympus“ von Jan Fabre. Haben Sie das gesehen? Haben Sie durchgehalten, oder sind Sie eingeschlafen?

Ich bin einige Stunden ins Hotel gegangen. Wir freuen uns besonders, dass wir diese Aufführung in Wien präsentieren können. „Mount Olympus“ ist ein wirkliches Theater-Event und eine ganz besondere Erfahrung.


Die Festwochen zeigen auch „Die Anpassung“, eine Produktion aus Teheran.

Das ist ein starkes Statement über Frauen im Iran, sie erzählen ihre Geschichte.


Waren Sie im Iran? Hat es Ihnen gefallen?

Das System ist mir fremd. Ich wurde einem Repräsentanten des Festivals vorgestellt, der mir nicht die Hand geben konnte, weil ich eine Frau bin, und dann diese Bekleidungsvorschriften! Vom Land habe ich allerdings, das muss ich sagen, nicht viel gesehen. Ich war hauptsächlich in Teheran auf dem bekannten Fadjr-Festival. Dort habe ich sehr viele iranische Produktionen von unterschiedlichster Qualität gesehen – und eben dieses grandiose Stück von Mahin Sadri gefunden. Sie ist die Frau des bekannten iranischen Regisseurs Amir Reza Koohestani.

Frau Davydova, darf man Sie auch fragen, . . .

1 . . . ob Sie daran gedacht haben, in den Westen zu übersiedeln?
Ich denke darüber nach, aber es ist nicht so leicht, eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen. Ich habe einen 14-jährigen Sohn, der in Moskau lebt. Derzeit weiß ich nicht, wie es nach dem Ende meines Festwochen-Vertrags mit mir weitergehen wird.

2 . . . ob Sie Angst haben vor der Rückkehr des Kalten Krieges und der Unterdrückung von Intellektuellen in Russland?
Ich befinde mich in keiner einfachen Situation. Für unsere Behörden bin ich Teil der westlichen Kultur, ich bin verdächtig. Dabei liebe ich Russland, die russische Kultur und das russische Theater, aber nicht die Leute, die jetzt das Sagen haben.

3 . . . ob Sie manchmal überfordert sind von all Ihren Tätigkeiten?
Ich bin erschöpft, ja, aber ich bin glücklich. Ich habe all diese wunderbaren, spannenden Arbeiten, die ich kombinieren kann.

Steckbrief

1966 Marina Davydova wird in Baku geboren.

1988 Sie schließt ihr Studium im Fach Theaterkritik in Moskau ab. Promotion über die „Theatralität in der englischen Tragödie der Nach-Renaissancezeit“.

Tätigkeiten. Davydova unterrichtete „Westeuropäische Theatergeschichte“, hielt Vorlesungen über Theaterkritik, u. a. an der Staatlichen Russischen Universität für Geisteswissenschaften in Moskau. Sie publizierte, u. a. die Monografie „Das Ende einer Theaterepoche“ (1995–2005). Davydova war Theaterkritikerin der „Iswestija“ und schreibt für „Theater heute“. Sie ist künstlerische Leiterin des Moskauer NET-Festivals und Chefredakteurin der Zeitschrift „Teatr“ , ferner Kolumnistin auf der Internetplattform Colta.ru.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.01.2016)

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